Kinder und Karriere - Transformation erforderlich

Stefan Diestel, Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie, über die Belastungen für Eltern.

Herr Prof. Diestel, um wie viel schlimmer wäre der Fachkräftemangel ohne unzählige tatkräftige Großeltern?

Eine solches Szenario mit genauen Zahlen zu zeichnen, ist leider eine fast unmögliche Aufgabe. Allerdings ist es weniger eine Frage der Betreuungsangebote. Vielmehr beeinflussen soziale und individuelle Erwartungen an die Qualität und den Umfang der Kinderbetreuung die beruflichen Möglichkeiten von Eltern. Nehmen wir soziale Milieus, die durch akademische oder andere höhere Qualifikationen, mittlere bis höhere Einkommen und bürgerliche Aufstiegs- sowie Leistungserwartungen geprägt sind. Insbesondere hier dominieren sehr umfassende Anforderungen an Erziehung, Betreuung und Fürsorge der eigenen Kinder. Diese Anforderungen, darunter etwa zahlreiche Musik-, Sport- und andere Talentaktivitäten, lassen sich häufig nicht mit beruflichen Rahmenbedingungen, geschweige denn Karriereambitionen in Einklang bringen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Betreuungssituation aufgrund von Personalmangel, unzureichender Qualifikation und fehlender Investitionen sich mutmaßlich verschlechtert hat und Eltern selbst mehr Verantwortung übernehmen müssen. Hier zeichnet sich ein Teufelskreis mit wechselseitig verstärkenden ungünstigen Bedingungen ab.

Kinderbetreuung und Mitarbeiterzufriedenheit – wie stark hängt das zweite vom ersten ab?

Frühere Studien haben zunächst keine Belege für einen Einfluss von Kinderbetreuung – vom Arbeitgeber finanziert – auf Zufriedenheit geliefert. Neuere Befunde hingegen dokumentieren, dass die Zufriedenheit mit familienfreundlichen Programmen Fluktuationstendenzen verringert. In einer Metastudie aus dem Jahre 2013 zeigte sich ein moderater bis starker positiver Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von familienunterstützenden Maßnahmen des Arbeitgebers und Mitarbeiterzufriedenheit. Insofern lässt sich schlussfolgern, dass das Ausmaß, in dem Organisationen in der Kinderbetreuung unterstützen, die Zufriedenheit von Beschäftigten gegenüber der Organisation nachhaltig fördern kann.

Viele berufstätige Eltern sind am Limit – auch Monate nach Corona. Welche gesellschaftlichen Versäumnisse sehen Sie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten?

Die Versäumnisse liegen meiner Ansicht nach deutlich weiter in der Vergangenheit. Wir beobachten seit 2006 einen kontinuierlichen Anstieg der durch psychische Erkrankungen verursachten Fehlzeiten. Zunehmende psychische Belastungen am Arbeitsplatz, weniger Unterstützung in der Betreuung, Verschlechterung der Bildungssituation, wachsende soziale Ungleichheit und schlechtere Aufstiegschancen sowie teilweise stagnierende Lohnentwicklungen dürften infolge der neoliberalen Reformen im Zuge der Agenda 2010 das chronische Stresserleben in weiten Teilen der Erwerbsbevölkerung massiv gefördert haben. Dann allerdings haben Pandemie und fehlende Unterstützung berufstätiger Eltern in einer Weise belastet, die die psychischen Ressourcen weit über die Kapazitätsgrenzen strapaziert haben dürfte. Homeoffice und Homeschooling sind die bekannten Stichworte.

Gehen die meisten Unternehmen mit dieser Problematik Ihrer Meinung nach richtig um?

Das ist leider kaum eindeutig zu beantworten. Es gibt Leuchttürme im Mittelstand, die eine große soziale Verantwortung gegenüber ihren Beschäftigten zeigen. Jedoch ist das Spektrum sehr groß. Teilweise fehlen hinreichend valide Daten. Allerdings ist es meines Erachtens nicht allein eine Frage unternehmerischer Verantwortung, sondern staatlicher Fürsorge und gesellschaftlicher Solidarität, die auch durch politische Diskurse beeinflusst und ausgebaut werden müssen.

Wo sehen Sie die größten Chancen für eine Lösung oder zumindest Abmilderung der jetzigen Betreuungs-Lage?

Dazu braucht es eine umfassende Transformation des Bildungs- und Betreuungssystems in Deutschland. Der Fokus müsste stärker auf nachhaltiger Persönlichkeitsentwicklung, struktureller Unterstützung von erwerbstätigen Eltern, Förderung von wechselseitiger Solidarität, Einbindung von Unternehmen und Chancengleichheit in der Bildung liegen.

Das Gespräch führte Daniel Boss.

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