Scherenproduktion - 100 Jahre gut abgeschnitten
„Jetzt geht es darum, wie die nächsten 100 Jahre werden“, sagt Torsten Kretzer, Chef von „Europas wahrscheinlich größtem Scherenproduzenten“ in Solingen.
Torsten Kretzer wusste es schon vor dem Tag der offenen Tür: „Da überholen mich bei den Führungen dann wieder andere Gruppen, die nach mir gestartet sind. Denn ich kann zu jedem Teil der Produktion etwas sagen.“ Der 61-Jährige leitet seit einem Vierteljahrhundert die Kretzer Scheren GmbH in Solingen-Aufderhöhe. Sie feierte im Juni „entspannt, nicht so steif“ das 100-jährige Bestehen. Wahrscheinlich habe er auch dabei seine Redezeit überzogen, blickt Torsten Kretzer zurück. „Ich wollte aber klarstellen, dass neben Durchsetzungsvermögen auch andere Faktoren wichtig sind, wenn man 100 Jahre am Markt bestehen will. Ich habe den Mitarbeitenden gesagt, dass wir ein wirklich gutes Team sind. Dass der wahrscheinlich größte Scherenhersteller Europas nicht nur durch die Familie geführt wird, sondern auch wie eine Familie funktioniert.“
Die 41 Männer und Frauen hinter Kretzer produzieren 1,3 bis 1,4 Millionen Scheren pro Jahr. Rund die Hälfte geht in den Export. Die Palette reicht von der kleinen, leichten Hautschere über Haushaltsscheren bis zu Exemplaren für ganz spezielle Einsätze. Ein Hersteller von Kunstrasen in den USA etwa trimmt überstehende Halme mit Kretzer-Hilfe. „Eine Schere neu zu erfinden, das ist praktisch unmöglich“, betont der geschäftsführende Gesellschafter. Und trotzdem gelingt es in Aufderhöhe immer wieder. Bestes Beispiel ist die Schere, die nicht schneidet. Konkreter: die keine Haut schneidet. Ihre Entwicklung begann mit der Anfrage eines Unternehmens aus der Dentalbranche. Es hatte Probleme mit einem bestimmten Faden. „Wir haben mit einem speziellen Schnittbild experimentiert“, berichtet Torsten Kretzer. Mit dem Ergebnis, dass sich der Faden sauber durchtrennen ließ – menschliche Haut aber nicht.
„Wir haben daraufhin eine Schere für Kinder entwickelt, weil wir gesehen haben, dass dort ein Markt existiert“, erzählt der Chef. Die 2005 patentierte Schere sorgt seitdem für etwa ein Zehntel vom Umsatz – und ist nicht nur bei Eltern beliebt. Denn Kretzer verwendet das Schnittbild auch für Profischeren. Sie werden von Unternehmen eingesetzt, in denen es früher häufig zu Verletzungen kam.
„Die Schere ist für den Außenstehenden ein todlangweiliges Produkt“, vermutet Torsten Kretzer. „Das Spannende für mich ist aber die Breite. Durch die Kundenanfragen sammeln wir jeden Tag Wissen.“ Etwa bei einer Messe in den USA, als ein Produzent von Raumanzügen für die NASA an den Stand kam. Es ging um Aramid-, Carbon- und Glasfasern. Für das Solinger Unternehmen bei zunächst nur 60 Scheren ein kleinerer Auftrag. Der große kam ein Jahr später bei einer Messe in China. Auch das Instandsetzungswerk der chinesischen Luftwaffe schneidet jetzt dank Kretzer besser ab.
Es war ein weiter Weg von der Firmengründung, als Johann Kretzer sich 1923, im Jahr der Hyperinflation, mit seinen Söhnen Ernst und Hans selbstständig machte. Was wünscht sich der Diplom-Ökonom Torsten Kretzer zum 100. Geburtstag der Firma? Beispielsweise mehr Kooperationen, wie sie schon beim Stromeinkauf existieren. Bei Stahl oder Betriebsmitteln wie Ölen und Fetten aber nicht. Auch auf der Wunschliste: Interessenten für die vier offenen Plätze in der Firma, darunter auch Lehrstellen. „Ich habe das Gefühl, dass wir uns in Deutschland gerade ernsthaft ausbremsen“, warnt Torsten Kretzer. „Das gilt für Brötchen wie für Scheren. Verlieren wir die Qualität und die Vielfalt?“
Text: Fred Lothar Melchior