Medikamentenmangel - Nicht auf Lager?

Rein in die Apotheke, Rezept vorlegen, das Medikament bekommen: das Idealszenario für Kunde, Apotheke und Arztpraxis. Doch immer öfter kommt es anders. Denn immer seltener sind Medikamente verfügbar. Warum ist das so und was würde Abhilfe schaffen?

2016 mussten mehr als die Hälfte aller Apotheken in Deutschland den Kunden ein- oder mehrmals „eine weniger geeignete Darreichungsform oder einen Arzneistoff zweiter Wahl geben“, heißt es in einer Analyse der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V. 2020 fehlten 16,7 Millionen Rabattarzneimittel, darunter Blutdrucksenker, Diabetesmittel, Säureblocker, Schmerzmittel. Mehr als zehn Prozent der Arbeitszeit investiert die Mehrheit der Apotheker hierzulande (62,2 Prozent), um bei Engpässen mit Ärzten, Großhändlern und Patienten Lösungen zu suchen. Im europäischen Mittel benötigen Apotheken 5,1 Stunden pro Woche für Lieferengpass-Management. Ein Lieferengpass ist eine über zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer üblichen Auslieferung oder deutlich erhöhte, das Angebot übersteigende Nachfrage. Ohne gleichwertige Alternativarzneimittel liegt ein Versorgungsengpass vor. Gegenwert für den Aufwand: 400 Millionen Euro. „Davon wurde noch kein Kunde bedient, kein Medikament verkauft. Das ist einfach Mehrarbeit“, sagt Henning Denkler. Der Inhaber der Remscheider Regenbogen-Apotheke im Kaufland ist einer der selbstständigen Apotheker (62,4 Prozent), die Lieferengpässe zu den größten Ärgernissen im Berufsalltag zählen.

Der unterscheidet sich regional wie bundesweit kaum. Täglich suchen Mitarbeitende in Apotheken nach Alternativen für nicht verfügbare Arzneimittel. Lässt sich eine 100er-Packung durch zwei 50er ersetzen? Super. Ist weniger da und der Rest auf dem Weg? Okay. Ist nur eine Tablette in doppelter Wirkstärke da, kann der Patient sie auf zwei Einnahmen verteilen. Oder nimmt im umgekehrten Fall täglich die doppelte Menge ein. Oder es gibt eine andere Darreichungsform wie Spritze statt Pille. Vielleicht hat eine andere Apotheke die gesuchte Ware auf Lager. Scheitern alle Optionen, muss der Arzt einen anderen Wirkstoff verschreiben, mitunter auf Empfehlung der Apotheke – zusätzlicher Aufwand für alle und suboptimal für den Patienten, der gerade bei chronischen Erkrankungen individuell auf „sein“ Medikament eingestellt ist. Und bei Antibiotika beispielsweise wächst das Risiko, dass sich Resistenzen gegen einen zu oft verschriebenen Wirkstoff bilden. Das vermindert auf Dauer den Heileffekt. Erzeugt ein Alternativ-Medikament Nebenwirkungen, müssen die zusätzlich behandelt werden.

Die Ursachen für Lieferengpässe? Komplex. Themen für sich. Der Kostendruck im Gesundheitswesen steigt. Die Nachfrage nach Medikamenten ebenso, etwa wegen Corona und des Ukraine-Krieges. Wirkstoffe für den Weltmarkt werden in wenigen Betrieben in Fernost produziert – das ist günstiger als in der EU. Produktionen stoppen wegen nicht verfügbarer Zuliefererartikel oder defekter Anlagen. Neue Vorschriften wie der Einbau bestimmten Filter oder deren häufigerer Austausch bremsen Prozesse aus und verteuern sie. Verunreinigungen verhindern Chargen-Freigaben. Verpackungsmaterialien wie Flaschen für Nasensprays fehlen. Im Import- und Exportgeschäft existieren exklusive Arzneimittel-Rabattverträge – Entwicklungen wie diese schränken die Vielfalt ein. Im Rahmen des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) etwa, seit 2011 zur Preisregulierung innovativer Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen in Deutschland in Kraft, müssen Pharmahersteller für diese mit dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen Erstattungsbeträge verhandeln. Das erzeugt enormen Wettbewerbsdruck. Der Billigste gewinnt. „Veräußere ich Hustensaft in Deutschland, wo ich fünf Euro dafür bekomme, oder in den USA für 15 Euro? Natürlich exportiert ein ausländischer Hersteller zu uns nur geringste Mengen“, sagt Apotheker Henning Denkler. Die Abhängigkeit vom Auslandsmarkt sei politisch gewollt – und unnötig. „Deutschland hat nach wie vor tolle Pharmaunternehmen. Aber hier zu produzieren, lohnt sich nicht mehr.“ Das bestätigt Birgit König, eine der beiden Inhaberinnen der Wuppertaler Tannenberg-Apotheke. „Das ging nur gut, solange die Weltwirtschaft florierte.“ Während etwa bei bestimmten Kinderarzneien der Einkaufspreis hierzulande bei bis zu drei Euro pro Tablette liege, koste die in Asien produzierte Variante einen einstelligen Centbetrag.

Um möglichst viele Medikamente vorzuhalten, bestellt die Tannenberg-Apotheke prophylaktisch mehr Arzneimittel. „Werden die nicht gekauft, bleiben wir im Zweifel auf mehreren Tausend Euro Ausgaben sitzen“, schildert Anna Marquardt, die zweite Inhaberin der Tannenberg-Apotheke, deren Lager gut 20.000 Arzneimittel umfasst. „Viele Kunden fragen nach Gründen für Lieferengpässe. Aber wir bekommen selten Infos vom Großhandel.“ Das erzeuge Hilfslosigkeit und Frust. „Ärzte wissen auch nicht, was lieferbar ist. Es ist auch nicht ihr Job. Zudem arbeiten sie mit einer anderen Software als wir. Es ist ein unglaubliches logistisches Problem.“ König ergänzt: „Wenn wir Medikamente importieren müssen, muss die gesetzliche Krankenkasse das erst genehmigen. Das kann drei Wochen dauern. Im Zweifel ist der Patient so lange nicht versorgt.“ Im Schnitt 3.000 Euro pro Apotheke beträgt König zufolge der monatliche Mehraufwand aufgrund von Nichtlieferfähigkeiten. Eine zusätzliche Belastung, für die Apotheken selbst aufkommen müssen. Sie können sie nicht weitergeben. „Zur Entlastung wurde die Lieferengpasspauschale von 50 Cent pro Rezept eingeführt. Das spiegelt aber in keiner Weise unseren tatsächlichen Arbeitsaufwand.“ Um unter diesen Umständen Personal zu halten, brauche es bessere Honorare. Mitarbeiter zu reduzieren sei keine Lösung. „Dann haben die verbliebenen noch mehr Druck.“

„Es ist zunehmend anstrengend“, sagt Sajra Dzamastagic aus der St. Michael-Apotheke in Solingen, bei der bis Redaktionsschluss mehr als 600 Lagerartikel fehlten. Täglich versucht eine eigens dafür abgestellte Mitarbeiterin, diese neu zu ordern. Reservierungen klappen bedingt, einige Medikamente sind nur tagesaktuell und in einem bestimmen Zeitfenster verfügbar. Manches vorgemerkte Produkt sei nach sechs Tagen da, ein anderes nach Monaten. Begründungen gibt es selten. Dzamastagic würde „lieber zehn Minuten länger den Patienten zur Einnahme und Wirkung seines Medikaments beraten, statt mich darum zu kümmern, überhaupt ein geeignetes Arzneimittel zu finden“. Immer öfter müssten Apotheken Patienten unverrichteter Dinge wieder wegschicken, weil man nicht zu einem Ergebnis komme. „Sind Kunden nicht in der Lage, selbst aktiv zu werden, rufen wir in den Praxen an.“ Viele seien kooperativ und schickten ein neues Rezept ohne, dass der Patient erneut dort erscheinen müsse. „Unsere Kunden wissen das zu schätzen.“ Eine mittelfristige Besserung der Lage hält aber auch Dzamastagic für unwahrscheinlich. „Bis es Lösungen gibt, sind wir Apotheker und auch Ärzte gefragt, die Lage zu managen.“ Die fehlende Unterstützung seitens der Politik, die derzeit über notwendige Honorarerhöhungen streite, sei demotivierend. „Es ist Zeit, dass die Leistung der Apotheken vor Ort anerkannt wird.“ Zumindest untereinander herrsche ein kollegiales Miteinander. Im Sinne einer gerechten Versorgung versuche man, Medikamente gleichmäßig zu verteilen, statt zu konkurrieren. „Als Heilberufler wollen wir den Patienten helfen“, sagt Dzamastagic.

Alle Protagonisten schauen trotz wenig rosiger Aussichten auf Positives wie Zusammenhalt, Ausweich-Optionen und den gelebten Versorgungsauftrag. Langfristige Lösungsideen? „Bürokratische Strukturen straffen, Kosten umverteilen, in Produktion und Neugründung von EU-Firmen investieren“, sagt Birgit König. „Ausfüllen und Bearbeiten von Rezepten vereinfachen. Trotz freier Marktwirtschaft keine unnötigen Ressourcen verbrennen. Statt dem 20. Hersteller für ein Nachahmer-Präparat lieber andere Medikamente produzieren – die Gruppen sinnvoller aufteilen.“ Rabattverträge zwecks Planungssicherheit nicht nur für zwei Jahre zu schließen, hält Anna Marquardt für wichtig. Henning Denkler wünscht sich eine Honorarerhöhung zum Erhalt der Apotheken. „2015 hatten wir noch 21.000 Apotheken, heute sind es 17.000.“ Noch überwiege Ohnmacht, aber die beiden bisherigen Apothekerstreiks hätten zumindest Aufmerksamkeit erzeugt. Sein Credo: „Was Staat und Regierung lenken, sollte nicht dem Diktat des Geldes unterstellt sein, schon gar nicht dem freien Markt. Gesundheit muss kosten dürfen.“ 2019 hatte der ABDA einen Acht-Punkte-Katalog gegen Lieferengpässe beschlossen. Dazu zählen unter anderem Einbindung sämtlicher Akteure in ein zentrales Informationssystem, Vorschrift für Mehrfachvergaben von Rabattverträgen mit mehreren Wirkstoffherstellern, verstärkte Wirkstoff- und Arzneimittel-Produktion in der EU, definierte Spielräume beim Lieferengpass-Management sowie Beschränkungsmöglichkeiten beim Export versorgungsrelevanter Arzneimittel bei Lieferengpässen.

Text: Tonia Sorrentino

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