Vielfältige Wege - Heimat bieten

Stephan Anpalagan ist Diplom-Theologe, Musiker, Journalist, Autor und Speaker. Im Interview spricht er über seinen Lebensweg, gesellschaftliche Zukunftsfragen und seine Heimat Wuppertal.

Herr Anpalagan, Ende September 2023 erschien Ihr Buch „Kampf & Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft“. Was hat Sie dazu bewegt, es zu schreiben?

Ich sehe eine Leerstelle in der deutschen Debatte um Heimat, Identität, Zugehörigkeit. Antworten auf die einfache Frage „Was ist deutsch?“ können meterlange Buchreihen füllen – und sind kompliziert. Doch es gibt noch nicht so viel dazu, wie sich die Themen aus der Perspektive von Menschen darstellen, die nicht schon immer hier leben. Menschen mit einer Identität, die daraus besteht, dass sie woanders weggegangen, aber an einem neuen Ort noch nicht vollständig angekommen sind. Menschen, die sich als deutsch empfinden, aber noch etwas anderes mit sich tragen.

Wie definieren Sie „Heimat“ für sich?

Heimat ist der Ort, an dem eine Schwebebahn fährt. Und wo man sich heimisch fühlt. Das klingt wie ein Schulwitz, aber es gibt keine Definition, die dieser pluralen Gesellschaft gerecht wird. Menschen können gefangen sein zwischen zwei Heimatorten, sich in ihrem Zuhause nicht heimisch fühlen, ihre Heimat verlieren, Sehnsucht haben nach einer Heimat, während sie nicht merken, dass ihr aktueller Lebensort Heimat ist. Was wir als Gesellschaft bis heute vielleicht nicht anerkennen wollen: Es gibt verschlungene Lebenspfade. Menschen definieren Heimat unterschiedlich und hadern damit. Das Beste, was wir machen können: den Menschen, die dieses Land als Heimat verstehen, Heimat bieten. Ich hoffe, dass es die kommende Generation besser macht als wir.

Apropos verschlungene Pfade: Wie sind Sie von der Theologie über die alternative Rockband zum Speaker rund um Rechtsextremismus und Integrationsdebatte gelangt?

Ich habe mich als Teenager in meiner evangelischen Kirchengemeine engagiert und lange, bevor es das Wort gab, in der Flüchtlingshilfe gearbeitet, bei Übersetzungen, Arztbesuchen oder Schreiben zur Abschiebungsverhinderung unterstützt. So kam ich in die Menschenrechtsarbeit. Dann studierte ich evangelische Theologie – ohne Exit-Szenario. Zur Finanzierung arbeitete ich bei Thyssenkrupp, machte parallel Musik mit der Band „Microclocks“. Wir waren auf Platz 1 der Alternative-Charts. Danach wählte ich die vergleichsweise langweiligste Karriereoption und ging in die Wirtschaft, wo ich sehr schnell Personalchef wurde. Mit Anfang 30 beriet ich Unternehmen: vor allem dazu, wie sie Arbeitskräfte bekommen, Arbeitgeberattraktivität steigern, Internationalisierung vorantreiben und Menschen über Führung ermutigen, sie befähigen und ihnen Sinn verschaffen. All das habe ich gern gemacht. Als ich erschrocken feststellte, mit welchem Durchmarsch Rechtsextreme und Rechtsradikale in Deutschland Erfolge feiern, und dass wir dazu zu wenig hören und lesen, fing ich an, zu schreiben. Dann folgten Interviews, Talkshows, Zeitungsartikel und Rundfunk-Kommentare. Seit einiger Zeit bin ich zusätzlich Lehrbeauftragter an der Polizeihochschule, um angehende Polizistinnen und Polizisten gegen Extremismus im weitesten Sinn zu immunisieren.

Stresst es Sie nicht, sich auf so verschiedenen Ebenen immer wieder neu einzulassen?

Es ist sicher eine Persönlichkeitsfrage. Aber wenn man sich gut selbst einschätzt und kennt, wird die eigene Arbeit besser, und verschiedene Bereiche befruchten sich gegenseitig. Ich achte darauf, mich nur in dem Rahmen zu äußern, in dem ich profund reden kann. Und ich halte gern mehrere Bälle in der Luft. Als stellvertretender Personalchef einer Investment-Gesellschaft habe ich damals hunderte Vorstellungsgespräche geführt. Auf all diese unterschiedlichen Menschen fast gleichzeitig einzugehen, war eine gute Ausbildung. Wie vieles, was ich jetzt mache. Offen gestanden, bin ich aber auch schnell unausgelastet.

Was sind Ihre nächsten Pläne?

Eine TV-Reportage zum Thema „Heimat in Deutschland“, zusammen mit einem Kollegen. Mein Verlag und ich haben uns auf ein zweites Buch verständigt. Ich werde die Themen Arbeitskräftemangel und Arbeitgeberattraktivität in Unternehmen verstärkt adressieren und dazu beraten. Wie erzielen wir eine Werbewirkung, sodass Menschen aus dem Ausland gern nach Deutschland kommen und mit uns große Aufgaben wie Pflege, Bildung und Infrastruktur bewältigen? Daran werde ich 2024 arbeiten.

Über welche Lösungsansätze erreichen deutsche Unternehmen internationale Fachkräfte?

Im Kern müssen sie es selbst machen, können sich nicht mehr auf den Staat oder Lobbyorganisationen verlassen, indem sie dort ihre Interessen bekunden. Unternehmen brauchen Empfehlungen, damit Arbeits- und Fachkräfte dort arbeiten wollen. Die bekommen sie, indem sie ihre Mitarbeitenden gut behandeln. Das ist ein ganz wichtiger Faktor, möglicherweise der einzige. Kräfte aus dem Ausland müssen hier Heimat finden.

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

In zehn Jahren bin ich ungefähr 50. Um Reinhard Mey zu zitieren: „Nur ein Optimist würde von der Mitte des Lebens sprechen.“ Ich hoffe, dass ich bis dahin das, was ich in diesem Leben erreicht haben will, mindestens zur Hälfte geschafft habe. Wenn man etwas auch nur ein wenig besser gemacht hat, Menschen auf ihrem Weg begleitet oder beigestanden hat, dann hat man schon ein bisschen erreicht.

Was gefällt Ihnen im Bergischen besonders gut?

Es ist einfach wunderschön. Die für manche nicht ganz verständliche Architektur mit den Schieferfassaden und den grünen Fensterläden wärmt mein Herz. Jenseits vom Grafen vom Berg haben wir eine so unfassbar vielfältige, reichhaltige Geschichte. Elberfelder Weberaufstand, Friedrich Engels, Barmer Erklärung: Das alles wirkt sich meiner Meinung nach bis heute aus und verschafft den Menschen einen anderen Blick auf die Dinge. Ich finde es nur folgerichtig, dass "Die Zeit" Wuppertal totales Potenzial zuschreibt. Auch das ist typisch bergisch: Wuppertal ist im Kommen. Seit 30 Jahren. Angekommen und damit gentrifiziert sind wir noch nicht. Gut so, denn so verschwindet niemand in der Anonymität oder fühlt sich abgehängt.

Ihr Geheimtipp im Bergischen?

Das Born Café in Vohwinkel inmitten der Grautöne von Wuppertal-Vohwinkel, die schon Loriot hinreichend beschrieben hat. Der Ort ist wirklich eine Oase, in dem ich das beste Hühnerfrikassee meines Lebens gegessen habe. Es ist einfach nett – und über einem fährt die Schwebebahn.

Das Gespräch führte Tonia Sorrentino

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