Scherenproduktion - Scharfe Stücke

In Solingen werden Scheren der Marken Jaguar und Tondeo für Friseurinnen und Friseure hergestellt. Das Werk der United Salon Technologies geht einerseits neue Wege, setzt andererseits auf altes Handwerk. Jede Schere ist ein Unikat.

Eine richtig gute und teure Schere muss am Ende des Produktionsprozesses den Härtetest bestehen. Lose hängende Frischhaltefolie, ohne dass diese beim Schneiden verklebt. Wer das zu Hause mal mit einer mäßig guten Schere probiert, weiß, wie schwierig das ist. Die Scheren der Marken Jaguar und Tondeo von United Salon Technologies aus Solingen schaffen das mühelos. Mehrere Qualitätstesterinnen, teils ausgebildete Friseurinnen, prüfen jede einzelne Schere, wenn diese fertig geschliffen und verschraubt ist. Bis sie bei den Qualitätstesterinnen landen, mussten sie einen weiten Weg gehen.

Die Geschichte der Marke Tondeo beginnt 1928, die Firma Jaguar wurde 1932 gegründet. Eigentlich erbitterte Konkurrenten, werden sie 2013 zu United Salon Technologies (UST) zusammengeführt. Die Marken bleiben getrennt, die Produktion wird an der Ketzberger Straße zusammengelegt, wo bisher Jaguar produzierte. Dort werden täglich rund 2.000 Scheren von gut 170 Mitarbeitern in der Produktion verarbeitet, gut 200 Menschen sind am Standort insgesamt beschäftigt. Vieles wird in Handarbeit gemacht, nach guter Tradition, vieles mit modernen Geräten. Jede Schere hat gut und gerne 120 Arbeitsschritte hinter sich, wenn sie das erste Mal Haare in einem Salon schneiden darf.

Peter Mirtic kam 2018 in den Betrieb, ist Geschäftsführer Produktion. Er sei aus der Automobilbranche gekommen und habe sich anfangs in einer ganz anderen Welt wiedergefunden. „Scheren haben viel mehr mit Gefühl zu tun als Produkte aus der Autobranche“, sagt er. Trotzdem habe er Schritte und Produktionsweisen seiner früheren Branche übernommen. „Wir haben seitdem drei bis vier Millionen Euro hier investiert. In Maschinen, neue Produktionsschritte, Weiterbildungen der Mitarbeiter, ein entsprechendes Qualitätsmanagement“, sagt Mirtic. Gefühle sind das eine. Zahlen, Daten, Fakten das andere. Beides muss sich nicht ausschließen, im Gegenteil: Eine genaue Produktion kann sicherstellen, dass das Gefühl stimmt, wenn die Schere in der Hand liegt. Tarek Abu-Salem ist Qualitätsmanager bei UST. Er führt mit Mirtic durch die Produktion – vom Wareneingang über den Hartrichter und die Schleiferei bis zur Qualitätskontrolle.

Früher hätten die Firmen alle Prototypen und Rohlinge für Scheren-Modelle in Solingen schmieden lassen – das habe man unter großer Kritik aus der Region umgestellt. Das betrifft vor allem die teureren Tondeo-Modelle. Aus verschiedenen Gründen, wie Mirtic erklärt. Das habe mit Geschwindigkeit und Präzision zu tun. Einerseits würde es heute deutlich schneller gehen, Prototypen neuer Modelle zu entwickeln, anzupassen und zur Serienreife zu führen. „Was früher eineinhalb Jahre gedauert hat, schaffen wir heute in drei Wochen“, sagt Mirtic. Andererseits sei die Rohware aus der Schmiede weniger präzise als die eigene Arbeit. „Rohlinge aus der Schmiede haben bis zu einem Millimeter Abweichung. Unsere eigenen liegen bei einem Zehntel davon, teilweise sogar bei einem Hundertstel“, sagt Mirtic. Das sei entscheidend, wenn später exakt geschliffen werden muss. Aber: Wie produziert UST die Prototypen und Rohlinge, dass sie präziser sind, als bisher?

Die Firma hat Fräsmaschinen gekauft und für die eigenen Bedürfnisse optimiert. „Wir haben verschiedene Hersteller angefragt. Die Antworten lagen zwischen ,unmöglich‘ und ,kein Problem‘“, erklärt Abu-Salem. Die Wahrheit habe irgendwo dazwischen gelegen. Die Herausforderung sei – gerade bei den exklusiveren Tondeo-Scheren – das ausgeprägte ergonomische Design. Die Schere ist nicht flach, hat viele „Berge und Täler“, um optimal in der Hand zu liegen.

Für die Tondeo-Scheren bekommt die Firma Stahlplatten aus der Region mit speziell entwickelten Materialvarianten, die für das Verfahren optimiert sind. „Wir haben lange danach gesucht. Der Stahl, der zum Schmieden genutzt wurde, war für diese Art der Verarbeitung nicht geeignet“, so Abu-Salem. Aus den Stahlplatten werden in den Fräsmaschinen die Rohlinge für die Scheren herausgeschnitten. Die Vorteile liegen laut Abu-Salem auch in der Energie- und Rohstoffbilanz. Das Wasser in den Fräsmaschinen müsse nur einmal im Jahr getauscht werden. Eine Hitze wie beim Schmieden sei nicht nötig. Zudem sei man autonomer: „Mit den Maschinen können wir teils auch die Werkzeuge herstellen, die wir im Produktionsprozess brauchen“, so Mirtic.

Jaguar-Scheren, die in einem niedrigeren Preissegment angesiedelt sind, werden dafür etwas weniger aufwendig produziert. Für viele Modelle werden weiter Rohlinge eingekauft, die im eigenen Haus geschliffen und verschraubt werden. „Neun von zehn Friseuren haben eine Schere aus unserem Haus“, sagt Mirtic und unterstreicht, dass die Ware beider Marken auf die Ansprüche der Expertinnen und Experten in den Salons ausgerichtet ist.

Der nächste Schritt in der Produktion nach dem Fräsen wird ausgelagert. Der Stahl muss gehärtet werden. „Erst dadurch wird er rostfrei und bleibt dauerhaft hart. Scheren müssen hart sein, um scharf zu bleiben“, erklärt Abu-Salem. Das Härten passiere in Solingen und Umgebung. Unter Schutzatmosphäre – also mit möglichst wenig Sauerstoff. Denn die Reaktion von Stahl und Sauerstoff sorge für Verformungen des Stahls, so Abu-Salem – und damit für Verzug. Der ist für die Weiterverarbeitung in Schleifmaschinen ungünstig. Denn die Maschinen können sich eben nicht auf die verschiedenen Ungenauigkeiten einstellen, die entstehen könnten.

Wenn die Scheren wieder an der Ketzberger Straße sind, setzt der Hartrichter den Hammer an, um auch die letzten feinen Ungenauigkeiten in den Scherenteilen auszumerzen. In der Firma wird die Ausbildung zum Scherenkontrolleur angeboten – eine sehr spezielle Ausbildung, die die komplette Herstellung einer Schere umfasst. Die Aufgabe des Hartrichters ist eine davon. Der Mitarbeiter legt die Becke, wie die beiden Teile der Scheren genannt werden, auf eine Stahlleiste vor einen schmalen Lichtspalt. Wenn die Becke plan aufliegen, ist das Licht nicht mehr zu sehen. Wenn Licht durchschimmert, geht der Mitarbeiter mit dem Hammer zu Werke.

Übrigens auch aus eigener Herstellung. Es geht um zehntel Millimeter. Die Arbeit als Hartrichter erfordert viel Präzision, auch wenn das Werkzeug Hammer das erst einmal nicht vermuten lässt. „Was der Hartrichter hier perfekt macht, kann die Schleifmaschine im nächsten Schritt perfekt fortführen“, sagt Mirtic.

In der Schleiferei gibt es drei Arten von Maschinen. Voll- und halbautomatische sowie handgesteuerte Maschinen – je nachdem, welche Schliffe benötigt werden. Alle Maschinen haben Namen – darunter Terminator, Peri Grün und Henriette. Die Mitarbeiter haben sie so getauft. Gerade die händisch zu bedienenden Maschinen seien teilweise „uralt“, so Abu-Salem, aber für bestimmte Schritte noch immer notwendig. Die Vielzahl der nötigen Schliffe hängt mit der Vielzahl der verschiedenen Scheren zusammen, die im Haus gefertigt werden. Es gibt 400 Scherenvarianten, wenn man Tondeo und Jaguar zusammenrechnet – im Jahr werden 335.000 Jaguar-Scheren hergestellt und 15.000 Tondeo-Scheren. Letztere sind das Luxussegment der Solinger, sie kosten bis zu 1.800 Euro. Entsprechend aufwendig ist die Produktion. Entsprechend viele Schliffe werden benötigt – am Gewerbe, wo das Gelenk sich befindet, oder der hohlen Seite, der Innenseite der Schere. „Die Becke dürfen nur an der Schnittfläche zusammenlaufen, damit die Haare nicht eingeklemmt werden“, erklärt Abu-Salem. Die Becke der Scheren werden ballig geschliffen, konkav. „Je balliger der Schliff, desto hochwertiger ist die Schere.“

Ein Raum weiter steht ein Wasserbecken. Dort werden Effilierscheren mit Zähnen hergestellt. Statt die Zähne zu sägen, setzt man bei UST auf Elektro-Erosion. Vier Türme mit je acht Scherenteilen werden automatisch unter Wasser an einen stromführenden Draht herangefahren, durch den kleine Explosionen am Material verursacht werden. So werden die Zähne punktgenau in die Scheren „gesprengt“, erklärt Abu-Salem. Direkt an die Erodiermaschinen schließt sich die Handschleiferei an. Die Schleifböcke in Dunkelgrün ragen hoch in die Halle, in Bodennähe sitzen die Schleifer tief über die Schleifsteine gebeugt. An der Wand hängen Schleifsteine in großer Zahl – jeder für einen bestimmten Schliff an einer bestimmten Stelle der Schere. „Es gibt an jeder Schere Bereiche, die wir mit den Maschinen nicht erreichen können“, führt Abu-Salem aus. Dass die Schleifer so tief sitzen, so gebeugt schleifen, erklärt Abu-Salem mit der Kraft, die gebraucht wird. Die Mitarbeiter legen das eigene Körpergewicht rein, drücken die Arme zusätzlich mit den Innenseiten der Oberschenkel gen Schleifstein. Die Arbeit lasse sich nicht im Stehen machen. Im Anschluss werden die Becke in Trögen mit Steinen geglättet.

Die Vorproduktion im Erdgeschoss endet für die Scheren in ersten Verpackungen – Tondeo-Scheren werden dort in Schaumstoff verpackt und so in die Endfertigung im ersten Stock gebracht. Oben wird alles weitere von Hand gemacht.

Als erstes werden die Stopper – die zwischen den Griffen dafür sorgen, dass die Schere sanft stoppt – mit feinen Hammerschlägen angebracht. Dann beginnt ein Hin und Her zwischen den Räumen. In der großen Halle im Obergeschoss werden die Becke immer wieder in die passende Form für den anstehenden Schliff gebracht. Erst werden sie leicht gekrümmt, um die Gangstelle zu schleifen. An der Gangstelle liegen die Becke aneinander, sie ermöglicht die Bewegung der Schere. „Eine gute Gangstelle muss sicherstellen, dass die Scherenblätter nicht ineinander kippen. Je präziser eine Gangstelle, desto stabiler ist die Schnittführung, desto langlebiger ist die Schere und desto leichter ist der Gang“, sagt Abu-Salem. Dann werden die Becke an der Lichtleiste wieder begradigt. Anschließend wird die Schneide an einer Tellermaschine angeschliffen. Die Qualität der Schere und ihre Optik werden hier maßgeblich mitgeprägt. Denn je aufwendiger hier gearbeitet wird, desto weniger erkennt man den Übergang des Scherenblatts in die Schnittfläche. „Das Blatt der Schere ist ballig geschliffen. Je mehr jetzt an der Schnittfläche geschliffen wird, je weiter ins Blatt hinein geschliffen wird, desto mehr geht die Schnittfläche in das Blatt über“, erklärt Abu-Salem. Bei sehr hochwertigen Scheren erkenne man daher die Schnittfläche nicht mehr als solche – sie geht perfekt in die Schere über.

Jetzt wird die Phase geschliffen. Das ist die Stelle, an der die beiden Becke Kontakt haben beim Schneiden. Das Besondere ist, dass bei guten Scheren die beiden Blätter nur exakt an einer Stelle Kontakt haben. Peter Mirtic zeigt das im Anschluss in der Qualitätskontrolle. Er öffnet eine verschraubte Schere und schiebt unterhalb dieses Kontaktpunkts ein Stück Papier zwischen die beiden Blätter. Genau diese Spannung zwischen den beiden Scherenblättern wird durch die Verschraubung – die Hochzeit – sichergestellt. Mirtic sagt, es sei das Schlimmste, wenn Kunden die Schraube drehen und sich dann wunderten, dass die Schere nicht perfekt laufe. Dafür werde viel zu viel Arbeit in die Schliffe und selbst entwickelten Schraubsysteme gesteckt.

In der Qualitätskontrolle werden alle Scheren geprüft – je nach Anspruch an Nessel (Baumwollstoff), Haaren, oder Frischhaltefolie. Neben den Testerinnen gibt es noch maschinelle Tests, bei denen die Scheren darauf untersucht werden, welche Kraft zum Schließen der Schere gebraucht wird – so wird sichergestellt, dass alles perfekt abgestimmt ist. Mirtic sagt, eine handelsübliche Schere verlange ca. 100 Gramm Schließkraft – eine Tondeo-Schere liege bei zehn bis elf Gramm. Auch Jaguar-Scheren zeichnen sich durch eine niedrige Schließkraft aus. Das lasse sich in Zahlen belegen. Aber vor allem, wie vieles bei Scheren, geht es um das Gefühl.

Text: Eike Rüdebusch

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