Europäische Union - Blick nach vorn
Kaum 250 Kilometer trennen das Bergische Städtedreieck vom Sitz des Europäischen Parlaments in Brüssel. Anfang Juni wird das EU-Organ neu gewählt. Wie wichtig die dortigen Entscheidungen für die hiesige Wirtschaft sind, berichten Bergische Unternehmer und Experten.
Chemische Erzeugnisse, Maschinen und Metalle sind die Hauptexportgüter der NRW-Wirtschaft in die EU. Damit liegt NRW laut aktuellem IHK-Außenwirtschaftsreport nach wie vor auf Platz zwei der exportstärksten Bundesländer. Gegenüber dem Vorjahr stieg der Exportwert 2022 um 16 Prozent auf rund 234 Milliarden Euro. Die wichtigsten Exportländer: die Niederlande sowie Frankreich. Die außenwirtschaftlichen Handelsbeziehungen in der Europäischen Union definieren sich immer häufiger in Brüssel: Im EU-Parlament beschließen Abgeordnete und Regierungsvertretende der 27 Mitgliedstaaten Gesetze, genehmigen den EU-Haushalt und wählen die EU-Kommissare und den Präsidenten der Europäischen Kommission. Als einziges EU-Organ wird das EU-Parlament unmittelbar vom Volk gewählt. Wer im Juni seine Stimme abgibt, formt die Zukunft der Europäischen Wirtschaft mit. Und damit der hiesigen.
Die Wechselwirkung erlebte Lars Wiegand, Geschäftsführer der Solinger Feinkostfabrik Wiegand & Sohn, als vor längerer Zeit die EU-Richtlinie zur Höchstmenge des Zuckeraustauschstoffs Saccharin als Lebensmittelzutat gesenkt wurde: Er musste die Zusammensetzung für sämtliche Produkte ändern. „Bestehende Chargen durften wir in einer Übergangszeit noch verkaufen. Die Umstellung hat drei Monate gedauert.“ Zunächst habe sein Team das Saccharin mit Zucker ersetzt, wegen der geringeren Süßkraft ein erheblicher Kostenfaktor. Im Anschluss testete man andere Austauschstoffe, um den ursprünglichen Geschmack zu rekonstruieren. Gesundheitsaspekte spielten auch eine Rolle. Wiegand: „Die Zutaten müssen unbedenklich sein.“ Anderes Beispiel: die „Tomatenkrise“ im Frühjahr 2022. Bauern in Spanien, Portugal und Italien reduzierten ihre Exportmengen aufgrund von Grundwassersparvorgaben. Das verdoppelte laut Wiegand das Preisniveau. „Ressourcenschonung ist richtig“, sagt er. „Aber das Problem ist seit Jahren bekannt. Man hätte sich das früher überlegen sollen.“ Bis dato kaufte er Tomaten sechs Monate auf Vorrat, nun seien es 18. „Mit dem Risiko, dass in dem Zeitraum wieder günstigere Chargen verfügbar werden.“ Rund 40 Prozent der Wiegand-Feinkostprodukte beinhalten Tomatenmark.
Wiegand nimmt die Umstände gelassen. Sein Wunsch: mehr Menschen mit Fachwissen in den einzelnen Gremien, deren Anzahl inklusive Administration verringern. „Zu wissen, wie es in der Praxis der jeweiligen Branche läuft, ist von Vorteil für die Beschlüsse“, findet der Unternehmer. Für den seit 1926 bestehenden Betrieb sucht er erstmals ein größeres Gebäude. „Dann könnten wir unser Sortiment erweitern.“ Allerdings bräuchte er für die geplanten Produkte eine EU-Zulassung. Und dafür weitere Mitarbeitende. „Das ist viel Bürokratie: Zulassungsverfahren, Standards, ISO-Zertifizierungen. Das kann Jahre dauern.“ Größere Betriebe mit mehr Manpower könnten dies einfacher umsetzen – ein künstlicher Wettbewerbsvorteil. „EU-Gesetze hebeln die nationalen aus, trotzdem gibt es innerhalb der EU unterschiedliche Konzepte, Lohnniveaus, Sanktionen und Subventionen. Es herrschen also keine identischen Bedingungen.“ Dennoch ist er pro EU: „Wegen des Grundprinzips, dass alle Staaten gemeinsam etwas bewegen. Die Unternehmen sollten mehr im Fokus stehen. Geht es ihnen gut, geht es den Menschen allgemein gut.“
Den Wunsch nach Bürokratieabbau und besserer Rechtsetzung teilt Wiegand mit der DIHK, die stellvertretend zehn Forderungen für eine bessere Wettbewerbsfähigkeit Europas definiert hat. Punkt zwei im Postulat: schnellere Genehmigungsverfahren, „um wichtige Industrieprojekte voranzubringen. Ein guter Anfang sind die Einrichtung von ‚One-Stop-Shops‘ und feste Zeitlimits für Genehmigungsverfahren (…) für alle Wirtschaftsbereiche (…). Um Verzögerungen zu vermeiden, sollte die EU kurze, verbindliche Fristen einführen und den vorzeitigen Betriebsbeginn zulassen.“
Auch Reiner Kammels, einer der beiden Geschäftsführer der international tätigen Remscheider Spedition Gustav Mäuler, beobachtet die Dimension vieler EU-Vorgaben aufmerksam. „Bei Unternehmen außerhalb Deutschlands können wir uns nicht darauf verlassen, dass sie uns immer alle Richtlinien mitteilen“, begründet er. Das 260-Personen-Logistikunternehmen agiert in mehreren Industrien inklusive Risikobranchen wie Chemie. „Die Anforderungen für die Lagerung von Gefahrstoffen beispielsweise sind hierzulande am strengsten“, sagt Kammels. „In Kundengesprächen stellen wir fest: Andere EU-Länder legen diese anders aus. Die Umsetzung liegt immer in Landesverantwortung und kann sich vorteilhaft oder nachteilig auf den Wettbewerb auswirken. Uns betrifft das zum Beispiel innerhalb der Supply Chain.“ Lieferketten seien ohnehin eine relevante Thematik: Zwar betreffe das EU-Lieferkettengesetz, das eine EU-Staaten-Mehrheit Mitte März in abgeschwächter Form unterstützte, zunächst nur große Unternehmen. „Kleinere, wie wir, könnten aber mittelfristig auch betroffen sein“, sagt Kammels.
Deutschland hatte sich bei der Abstimmung zum EU-Gesetz enthalten; dort gilt seit 2023 eine nationale Fassung. „Die ist deutlich umfangreicher als das nun angepasste EU-Gesetz und ging bislang schon für viele Unternehmen aufgrund der zahlreichen Auflagen mit Wettbewerbsnachteilen einher“, sagt Außenwirtschaftsreferent Jasper Rust vom Geschäftsbereich International der Bergischen IHK. Eine Befürchtung sei, dass Lieferanten aus Drittstaaten künftig wegen des erhöhten bürokratischen Aufwands sowie unkalkulierbarer Risiken nicht mehr mit EU-Kunden zusammenarbeiten. „Das würde die Lieferkettendiversifizierung schwächen.“ Zeitgleich schütze die Einhaltung des Gesetzes das Unternehmensimage. „Die Zusicherung von Lieferanten, Vorgaben einzuhalten, schafft zumindest theoretisch Sicherheit.“ Die Resilienz von Wertschöpfungs- und Lieferketten zu erhöhen, ist ein weiteres Anliegen der DIHK.
Eine weitere Forderung nach Bürokratieabbau betrifft den ab 1. Januar 2026 geplanten CO2-Grenzausgleichsmechanismus. Gemäß dem CBAM, Carbon Border Adjustment Mechanism, müssen EU-Unternehmen, die energieintensive Waren aus Nicht-EU-Staaten importieren – etwa Stahl, Zement, Aluminium, Elektrizität, Düngemittel, Wasserstoffe sowie ausgewählte Vor- und nachgelagerte Produkte – diese seit Oktober 2023 quartalsweise melden. Rust: „CBAM fordert die Angabe konkreter CO2-Werte aus den Produktionen. Die wären aber bei Lieferanten aus Drittländern anzufragen. Die IHK-Organisation fordert, dass die bisher von der EU zur Verfügung gestellten Standardwerte weiterhin genutzt werden dürfen, um die Unternehmen zu entlasten.“ Das Ziel: Emissionsverlagerung in Länder mit niedrigeren Umweltstandards eindämmen. „Ein richtiger, gemeinsamer Schritt Richtung Klimaneutralität. Allerdings verzerren Handelsbeschränkungen, die andere Regionen der Welt nicht haben, den Wettbewerb.“ Ein Hebel, die Berichtspflicht zu vereinfachen: Digitalisierung. „Grob 200 Informationen werden im Rahmen des CBAM gefordert. Auf 180 davon hat die EU aus anderen Importvorschriften schon Zugriff. Ideal wäre also eine digitale Schnittstelle“, so Rust. Auch die Übersetzung der bisher nur auf Englisch existierenden FAQ in die jeweilige Landessprache wäre hilfreich.
Wirtschaftliche Stärke, mehr Macht durch Handelsabkommen, Zollfreiheit, eine gemeinsame Währung und nahezu identische Standards unter anderem mit Blick auf Umwelt- sowie soziale und betriebliche Maßstäbe: Das Potenzial der Europäischen Union liegt auf der Hand. Spediteur Reiner Kammels etwa ist dankbar für das EU-Mobilitätspaket, das zum Beispiel bei Transporten einheitliche Regelungen vorsieht und so bisherige Wettbewerbsvorteile von osteuropäischen Unternehmen ausgleicht. „Zudem freuen wir uns auf die Digitalisierung der Transport- und Logistikbranche. Ab Anfang August müssen Dokumente wie Frachtbriefe und Zollerklärungen EU-weit digital vorliegen und sind damit einfacher zu kontrollieren. Uns hiesige Unternehmen setzt das international gleich, baut Bürokratie ab und macht den Markt transparenter.“
So wichtig die Europawahl für Erhalt und Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft ist: Die Beteiligung war bislang vergleichsweise niedrig, wie Prof. Detlef Sack vom Institut für Politikwissenschaft an der Bergischen Universität beobachtet. „Man erachtet die politische Ebene mitunter als unwichtig. Eine große Fehleinschätzung“, sagt der Experte für Demokratietheorie und Regierungssystemforschung. Der EU-Binnenmarkt etwa, zentral für deutsche Unternehmen, werde so abstrakt wie selbstverständlich wahrgenommen. Das greife zu kurz. „Dass wir bestimmte Zölle und Steuern im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsräumen nicht zahlen müssten, ist eine Errungenschaft des Abbaus der Handelsgrenzen. Warenströme werden nicht unterbrochen oder verkompliziert – man hat die Auswirkungen am Brexit gesehen. Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr sind Primärrechte. Die Rechtsprechung des EU-Gerichtshofs hat Vorrang gegenüber Urteilen nationaler Gerichte.“ Die Feinstaubrichtlinie von EU-Parlament und -Rat aus 2008 sei ein Beispiel für die Auswirkungen, gerade auf KMU. Hinzu kämen etwa die EU-Förderung für eine klimaneutrale Schifffahrt und das Programm „Digitales Europa“ – beides Elemente zugunsten der Weiterentwicklung nachhaltiger, geopolitisch unabhängigerer Kernindustrien. „Als politische Ebene ist Europa maßgeblich. Wir brauchen die gemeinsame Vision – auch wenn sie aufgrund der vielen unterschiedlichen Interessen vermutlich nie vollständig umgesetzt werden kann.“
Text: Tonia Sorrentino