Beruf und Familie - Herausforderung Pflege

Viele Berufstätige kümmern sich „nebenbei“ um kranke und alte Angehörige. Immer mehr Unternehmen reagieren und bieten Unterstützung an. Im Bergischen Städtedreieck existiert ein spezielles Netzwerk für dieses Thema.

Als „Homeoffice“ noch ein Fremdwort war, entschloss sich die Bornemann-Etiketten GmbH, eine Mitarbeiterin längere Zeit bezahlt freizustellen. So wollte man ihr die Betreuung ihrer pflegebedürftigen Mutter in den letzten Lebenswochen ermöglichen. „Ihre Kolleginnen und Kollegen haben die Situation verständnisvoll mitgetragen. Und die Mitarbeiterin war sehr dankbar, weil wir ihr die Last der Entscheidung genommen haben“, erinnert sich Personalleiterin Heidi Volkmann. „Da Familie immer vorgeht, hätte sie wahrscheinlich den Job gekündigt, und das wäre sehr schade für uns gewesen. So haben beide Seiten durch ein wenig Flexibilität und Nächstenliebe eine gute und menschenwürdige Lösung gefunden.“

Inzwischen haben die Wuppertaler ihrem Engagement in diesem Bereich eine Struk­tur gegeben. Als eines der ersten Unternehmen in der Region unterzeichnete Bornemann die Charta zur Vereinbarkeit von Beruf & Pflege NRW. Damit nimmt das Unternehmen am gleichnamigen Landesprogramm Vereinbarkeit von Beruf und Pflege teil. Es geht darum, die Pflege­freundlichkeit des Unternehmens zu verbessern, zum Beispiel durch die Quali­fizierung von Pflege-Guides und die Überprüfung von Arbeitszeitmodellen.

Laut dem Leitfaden „Pflegende Beschäftigte brauchen Unterstützung“ des Unternehmensnetzwerks „Erfolgsfaktor Familie“ von 2021 leben in Deutschland rund 3,7 Millionen Pflegebedürftige. Davon werden etwa 80 Prozent zu Hause betreut – von Angehörigen und Pflegediensten. Geschätzt versorgen bis zu fünf Millionen Menschen einen Angehörigen, der auf Pflege angewiesen ist. Und die meisten der Pflegenden gehen „nebenbei“ einem Beruf nach.

Auf solche Tatsachen müsse man im jeweiligen Verantwortungsbereich reagieren, findet Volkmann. „Für uns steht fest, dass wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in solchen Situationen unterstützen.“ Nicht zuletzt, weil man als Arbeitgeber in gewisser Hinsicht ebenfalls betroffen ist. „Eine Pflegesituation führt zu einer Doppelbelastung der Angehörigen. Das hat Auswirkungen. Der Mitarbeitende verändert sich, zieht sich zurück, hat Fehlzeiten, wird krank, macht Fehler.“ Alles nicht im Interesse eines umsatz­orientierten Unternehmens.

Die WKW Group bietet seit dem Frühjahr 2021 konkrete Hilfe in diesem Bereich an. Seitdem wurde diese von rund 50 Beschäftigten aktiv in Anspruch genommen, „das sind immerhin drei Prozent der Belegschaft an unseren deutschen Standorten“, so Stefan Blohm, Manager Human Resources beim Automobilzulieferer. „Diese Mitarbeiter waren froh, dass wir ihnen auf unkompliziertem Weg etwas Unterstützung anbieten konnten.“ Sieben Pflege-Guides, also besonders geschulte Kolleginnen und Kollegen, stehen zur Verfügung. Meist geht es um die Herausgabe von Informationsmaterialien zur Beantragung von Pflegeleistungen oder einer Pflegestufe.

Doch es gibt auch kniffligere Fälle – zum Beispiel aufgrund des Schichtbetriebs. „Pflegebedürftige benötigen in der Regel Hilfe im Laufe des normalen Tages. Also zu Zeiten, in denen der pflegende Angehörige regelmäßig arbeitet“, so Blohm. Was tun? In Bereichen, die dafür groß genug sind, wird der Beschäftigte zeitweise aus der Schichtarbeit genommen. Wenn dies nicht möglich ist, wird gegebenenfalls über einen Wechsel des Arbeitsplatzes gesprochen. „Solche Maßnahmen entlasten die Betroffenen, die sonst oft keine Zeit hätten, um alle Themen zu erledigen und auch die nötige Ruhe und Erholung zu finden“, meint Blohm.

Er sieht darin auch einen Mehrwert, den nicht jeder Arbeitgeber bietet. „Schließlich befinden wir uns auf einem Arbeitnehmermarkt. Die wenigen qualifizierten Mitarbeiter, die zur Verfügung stehen, können sich ihren Arbeitgeber aussuchen.“ Durch eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf entstehe eine stärkere Bindung zum Unternehmen – „und der Mitarbeiter fällt möglicherweise weniger aus“.

Entsprechende Argumente liefert auch die aktuelle „Attraktivitätsstudie“ von Prognos zu familienfreundlichen Arbeitgebern. Dafür wurden im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mehr als 2.500 erwerbstätige Eltern und pflegende Angehörige zu Bedarfen und Prioritäten befragt. Zwei wesentliche Ergebnisse: Etwa 80 Prozent der Befragten zählen Flexibilität für geplante oder spontane Auszeiten und Arbeitszeitunterbrechungen sowie keine Karriere-Nachteile durch Vereinbarkeit zu den wichtigsten Arbeitgeber-Merkmalen. Für 60 Prozent sind Flexibilität sowohl für planbare Auszeiten als auch im Notfall sehr wichtig, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen.

Im Bergischen Städtedreieck bietet das Kompetenzzentrum Frau und Beruf ein Netzwerk zum Austausch für Unternehmen mit „pflegesensibler Personalpolitik“ an. Christine Jentzsch, Fachreferentin im Kompetenzzentrum Frau und Beruf, befasst sich seit zwölf Jahren mit diesem Thema. Auf die Frage, was sich seitdem in der Wirtschaft getan hat, ist ihre Antwort eindeutig: „Noch nicht genug! Aber Unternehmen spüren die mangelnde Pflegevereinbarkeit als Ursache von Fehlzeiten, Krankheit, Burnout und Konflikten.“

Die Notwendigkeit der betrieblichen Entlastungsangebote werde immer offensichtlicher. Da viele Beschäftigte laut Jentzsch nicht offen mit ihrer Situation umgehen, muss das Pflegethema meist erst enttabuisiert werden. „Arbeitgeber sollten wissen, welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen und belastet sind.“ Das Kompetenzzentrum hat eine Handreichung entwickelt und thematisiert das Pflegethema durchgängig in seinen Beratungen. Und: Seit es über das Landesprogramm die Charta der Pflege NRW und die Qualifizierung für die betrieblichen Pflege-Guides gibt, „nehmen die Aktivitäten stark an Fahrt auf“.

Das Bergische Netzwerk der betrieblichen Pflege-Guides umfasst momentan 30 Personen aus 17 Unternehmen sowie fünf Anlaufstellen, die Informationen und Beratung für pflegende Angehörige bereithalten. „Wir organisieren jährlich zwei bis drei Treffen mit moderiertem Austausch“, erklärt Jentzsch. „Darin bieten wir aktuelle Informationen über schwierige Situationen und innovative Ideen.“ Das Kompetenzzentrum stehe kleinen und mittleren Unternehmen aller Branchen mit Beratung gern zur Seite. Eine Aufgabe der betrieblichen Pflege-Guides ist es, das Thema im Unternehmen präsent zu machen und zu halten. „Die Geschäftsführung sollte unbedingt unterstützen und mit im Boot sein“, betont Jentzsch.

Das findet auch Iris Bovenkamp, geschäftsführende Gesellschafterin des Wuppertaler Unternehmens Huehoco. Sie hatte sich zu diesem Thema 2021 mit einer anderen Unternehmerin in NRW ausgetauscht, die bereits Erfahrungen in Sachen Beratungen gemacht hatte. Diese Idee nahm Bovenkamp mit in den sogenannten W-Inno Kreis, ein lockerer Zusammenschluss inhabergeführter Unternehmen. „Doch eine reine Beratung ging mir und einigen der anderen Geschäftsführer nicht weit genug“, erinnert sie sich. „Wir wollten eine direkte Unterstützung durch Ansprache ,im Haus’ mit Weiterleitung an Stellen, wo konkrete Hilfestellung und Unterstützung gegeben wird“, so Bovenkamp. Hieraus entstand die Zusammenarbeit mit Christine Jentzsch.

Zusätzlich zur Schulung der Pflege-Guides bietet Huehoco seinen 500 Mitarbeitenden in Deutschland die Möglichkeiten eines externen Familienservices. „Wir arbeiten mit einem Unternehmen zusammen, das konkrete Hilfeleistung in der Lösung und Bewältigung von Familiensituationen liefert – sei es für Pflege von Ange­hörigen oder für die Kinderbetreuung.“ Bei den pflegenden Personen handelt es sich zu 70 Prozent um weibliche Mitarbeitende. „Doch wird es in der Zukunft auch immer mehr männliche Mitarbei­ter geben, die gefordert sind“, ist Bovenkamp überzeugt. Dafür sei es gut, dass es Netzwerke wie das im Bergischen gebe.

Das Bäckerei-Unternehmen Evertzberg aus Remscheid ist ebenfalls dabei. Hier ist Feel-good-Managerin Claudia Prinz erste Ansprechpartnerin: „Meine Aufgabe besteht darin, mich um die großen und kleinen Sorgen im beruflichen sowie im privaten Bereich zu kümmern.“ Dazu gehören das Ausfüllen von Anträgen, die Begleitung beim Gang zu Ämtern, die Vermittlung innerhalb des Kollegenkreises – und manchmal ist einfach nur zuhören gefragt. „In der heutigen Zeit ist es unbedingt notwendig, den Mitarbeitern das Gefühl zu geben, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind. Denn Schwierigkeiten, ob beruflicher oder privater Natur, spiegeln sich im Arbeitsalltag wider.“

Die Möglichkeit des Pflege-Guides besteht im Unternehmen seit drei Jahren. „Das Thema wird bei Neueinstellungen direkt erwähnt“, so Prinz. Sie selbst ist in den Filialen, der Produktion und im Versand unterwegs, während sich eine Kollegin in der Personalabteilung um den schriftlichen Teil kümmert, so erforderlich.

Manchmal lässt sich die Hilfe relativ leicht realisieren, manchmal ist die Angelegenheit komplex. Prinz schildert den Fall einer Mitarbeiterin, die ihre schwer an Demenz erkrankte Mutter kurzfristig bei sich aufnehmen musste. „Auf mein Anraten hin stellte sie einen Antrag auf Pflegeüberbrückungsgeld, da sie vor Ort erst einen Tagespflegeplatz suchen musste.

Zunächst jedoch lehnte die Pflegekasse den Antrag ab. Evertzberg hat die Tage trotzdem bezahlt, damit zu den ganzen Sorgen nicht auch noch ein finanzieller Nachteil entsteht. „Nach einem eingelegten Widerspruch und vielen Telefonaten meinerseits wurde der Antrag endlich angenommen“, so Prinz.

„Wenn plötzlich ein Pflegefall eintritt, sind viele Angehörige oft völlig überfordert. Nur wenige Familien sind auf eine solche Situation vorbereitet“, sagt Sarvin Vijayakumaran vom Pflegedienst Teheïm in Solingen. „Hinzu kommt, dass pflegende Angehörige, die berufstätig sind, ihre Rechte oft nicht kennen. So haben sie beispielsweise in akuten Pflegesituationen einen Anspruch auf Freistellung. Diese Auszeit ist für berufstätige Angehörige sehr wichtig, um sich auf die neue Situation einzustellen und alles zu organisieren.“ Hier reicht die Bandbreite von der Beantragung eines Pflegegrades bis hin zur Unterbringung der pflegebedürftigen Person in einer Einrichtung, in der sie tagsüber (Tagespflege) oder vorübergehend 24 Stunden (Kurzzeitpflege) betreut wird.

Von besonderer Bedeutung ist auch die Frage der Pflegestufe: „Pflegebedürftige mit Pflegegrad 2 haben beispielsweise Anspruch auf Pflegesachleistungen in Höhe von 761 Euro monatlich, wenn sie von einem professionellen Pflegedienst versorgt werden. Entscheiden sich Angehörige, die Pflege selbst zu übernehmen, erhalten sie Pflegegeld von der Pflegekasse“, so Vijayakumaran.

Auch bei Teheïm intern wird häufig nach Unterstützung gefragt. „Zunächst erfassen wir gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen die Situation: Wie viel Hilfe braucht die pflegebedürftige Person? Will die Kollegin oder der Kollege weiter arbeiten? Wie viel kann und darf die pflegende Person wann arbeiten? Diese Fragen sind zentral, um die bestmögliche Unterstützung anbieten zu können.“ Ein wichtiger Schritt sei auch, die pflegende Person bei der Pflegekasse anzumelden, damit sie für die Pflegezeit Rentenpunkte erhält.

Die Hilfsangebote in den Unternehmen werden wertgeschätzt. Bei Bornemann etwa nutzen immer mehr Mitarbeiter diese Möglichkeit. „Es besteht ein Vertrauen, dass man sich mit den Sorgen beim Vorgesetzten oder direkt in der Personalabteilung melden kann, um gemeinsam eine individuelle Lösung zu entwickeln“, so die Personalleiterin Volkmann. Aktuell zählt das Team 47 Personen. „Durch unsere Betriebsgröße arbeiten wir nicht nur eng zusammen, sondern wir kennen uns persönlich, verbringen Zeit miteinander und wissen, wem es gut oder schlecht geht.“ Einige im Team sind auf unterschiedliche Weise mit einer Pflegesituation konfrontiert. „Der eine benötigt flexiblere Arbeitszeiten oder Teilzeit, die andere Kontakte zu Beratungsstellen oder einfach mal ein offenes Ohr, um angestaute Emotionen loszuwerden“, zählt Volkmann auf.

Man dürfte nicht unterschätzen, rät Iris Bovenkamp von Huehoco, wie viele Menschen „Hilfe“ mit „Schwäche“ in Verbindung bringen: „Diese Vorurteile und Bedenken gilt es im ersten Schritt aus dem Weg zu räumen. Die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft, die Alterung unserer Bevölkerung wird uns in der Zukunft dazu zwingen, uns immer mehr mit der Herausforderung Pflege neben dem Beruf auseinanderzusetzen.“

Text: Daniel Boss

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