Entlastung für Mitarbeiter - Bedarfe früh erkennen
Prof. Stefan Diestel, Lehrstuhlinhaber für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie, über Hilfe bei privaten Anforderungen.
Herr Prof. Diestel, woran denken Sie als erstes, wenn Sie die Stichworte Pflege und Beruf hören?
Pflege erfordert neben Fürsorge und Geld auch, dass die Pflegenden empathisch sind. Dass sie sich sowie ihre Emotionen gut kontrollieren können und auch in kritischen Situationen geduldig sind. Unter den Vorzeichen steigender Lebensmittelpreise, Personalmangel und knapper Kassen besteht für viele Familien eine Alternative darin, pflegebedürftige Angehörige selbst zu betreuen. Das kann unter Umständen sehr schwierig werden. Wenn finanzielle und persönliche Unterstützung bei gleichzeitig eingeschränkter beruflicher Flexibilität fehlt, wird auch die Pflege der eigenen Angehörigen sehr belastend. Nicht selten verstärken sich berufliche und private Anforderungen wechselseitig mit der Folge, dass Burnout und Depressionen erheblich zunehmen. Die einschlägigen Sta-tistiken zur Fehlzeitenentwicklung der letzten 15 Jahre in Deutschland liefern hierzu traurige Belege.
„Wir alle werden älter“, heißt es immer. Worauf müssen sich Arbeitgeber diesbezüglich künftig einstellen?
Eine vorausschauende Personalplanung ist die Grundlage: Führungskräfte und HR-Verantwortliche müssen zeitnah die Bedarfe der Belegschaft erkennen und über eine passgenaue Gestaltung der Arbeitsbedingungen eine individuell realisierbare Vereinbarkeit zwischen Beruf und Pflege sicherstellen. Laut dem statistischen Bundesamt hat der Anteil der Älteren, die mit über 60 Lebensjahren noch erwerbstätig sind, in den Jahren zwischen 2012 und 2022 von 51 auf 72 Prozent zugenommen. Unternehmen und andere Organisation sollten daher die Altersstruktur relativ gut kennen und daraus Vorhersagen ableiten.
Welche Rolle spielen firmeninterne Unterstützungsangebote im Kampf um Fachkräfte?
Unternehmen sind gut beraten, wenn sie Führungs- und Teamkulturen schaffen, die Partizipation, Offenheit für neue Ideen, klare Ziel- und Aufgabenorientierung parallel zur Wertschätzung von hohen Altersunterschieden in Unternehmen fördern. Hierdurch sind Teams und Organisationen in der Lage, die Innovations- und Leistungspotenziale bei hoher Altersdiversität zu nutzen. In Ergänzung zu solchen Initiativen gehört es auch, Menschen zu unterstützen, die Angehörige, meist sind es ja die Eltern, pflegen müssen. Hiermit lassen sich Bindung zum Unternehmen und die allgemeine Arbeitszufriedenheit steigern.
Was raten Sie Unternehmen, die sich noch nicht mit diesem Thema beschäftigt haben?
Erstens stellt eine umfassende und differenzierte Analyse der Kompetenzprofile, Anfor-derungen und Führungsstrukturen mit Blick auf Motivation, persönliche Bedarfe und Leistungsprozesse einen Erfolgsfaktor dar. Zweitens gilt es, ein klares, auf in der Praxis gelebten Werteprinzipen basierendes Profil für die eigene Unternehmenskultur zu schaffen, in dem Aspekte der Unterstützung und Ethik im Einklang mit der Strategie eingebettet sind. Drittens lassen sich aus einem solchen Profil Maßnahmen und Initiativen zur Förderung der Resilienz von Beschäftigten und der Gesamtorganisation ableiten. Mit dem Ziel, die besonderen Anforderungen im Zusammenhang mit Pflegebedarfen, zunehmender Diversität und einer älter werdenden Belegschaft erfolgreich bewältigen zu können.
Die Betreuung von Kindern berufstätiger Eltern ist – zu Recht – ein großes und viel diskutiertes Thema in der Gesellschaft. Warum ist das bei der Pflege von Angehörigen nicht so?
In den Medien scheint das Thema tatsächlich etwas unterrepräsentiert zu sein. Allerdings gibt es sehr hilfreiche Informationen in Fragen der häuslichen Pflege und Betreuung im Internet, zum Beispiel von der Verbraucherzentrale oder vom Bundesgesundheitsministerium. Hier gilt es seitens der Kommunen, Job-Center und Unternehmen, mittels wirksamer Kommunikation Transparenz zu schaffen. Über die übergreifenden ge-sellschaftlichen Gründe, warum „Pflege“ nicht stärker thematisiert und diskutiert wird, können wir letztlich nur spekulieren. In seinem Werk „Vernichten“ reflektiert der nicht ganz unumstrittene französische Schriftsteller Michelle Houellebecq die gefährlichen kulturellen Folgen dieses Diskurses, die sich unter anderem in der Ausgrenzung pflegebedürftiger Menschen und der Tabuisierung von altersbedingten Krankheiten zeigen. Andererseits dürften viele Menschen in diesem Zusammenhang Scham empfinden. Sie haben Sorge, dass sie sozial isoliert werden, und wollen nicht, dass andere „falsches“ Mitleid teilen.
Das Gespräch führte Daniel Boss.