Barrierefreiheit - Surfen ohne Hindernisse

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) tritt Ende Juni in Kraft. Damit sollen Websites und digitale Dienste für Menschen mit Behinderungen zugänglicher gemacht werden. Welche Unternehmen sind betroffen und was müssen sie tun?

Wenn Menschen mit Einschränkungen oder Behinderungen im Internet Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen, kann das mitunter kompliziert werden. Wer schlecht sehen kann, kann etwa an Schriftgrößen oder Farbkontrasten scheitern. Oder an den oft eingebundenen Captchas: „Bitte bestätigen Sie, dass Sie ein Mensch sind und tippen Sie die folgenden Buchstaben und Ziffern ein“ – und dann soll der Mensch vor dem Bildschirm verschwommene Zeichen erkennen und erneut eintippen. Für viele hört da ein Buchungs- oder Bestellvorgang auf. So etwas kann eine unüberwindbare Hürde sein.

Um privatwirtschaftliche Internetseiten künftig für alle Menschen zugänglicher zu machen, reagiert der Gesetzgeber mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das ab dem 28. Juni in Kraft tritt. Das deutsche BFSG setzt die EU-Barrierefreiheitsrichtlinie von 2019 um. Es wurde bereits 2021 beschlossen. Damit sollen Menschen mit Behinderung, ältere Menschen oder solche, die digital wenig versiert sind, leichter Dienstleistungen in Anspruch nehmen können.

Betroffen sind einerseits bestimmte Dienstleistungen wie Messenger-Dienste, Bankdienstleistungen, Online-Shops oder Buchungsplattformen sowie Personenbeförderungsdienste und andererseits bestimmte Produkte wie Computer, Notebooks, Tablets, Smartphones, Geldautomaten, Fahrausweis- und Check-in-Automaten, Fernsehgeräte mit Internetzugang, Router und E-Book-Lesegeräte. Hersteller, Händler und Importeure dieser Produkte und entsprechende Dienstleister, die solche Services für Verbraucher anbieten, müssen künftig bestimmte Standards erfüllen, was Barrierefreiheit angeht. Grundsätzlich sind von dem Gesetz nur B2C-Angebote betroffen, also nur solche, die mit dem Endverbraucher zu tun haben.

Vom Anwendungsbereich des Gesetzes gibt es Ausnahmen für Betriebe, die weniger als zwei Millionen Euro Jahresumsatz machen und weniger als zehn Mitarbeitende haben – wenn sie nicht die gesondert benannten Produkte anbieten. Zudem gilt eine Übergangsfrist bis 2030 für bereits bestehende Angebote. Wer also nicht gerade die Website erneuert oder einen großen Teil neu gestaltet, hat noch Zeit mit der Umsetzung.

Das sollte aber niemanden abhalten, sich jetzt damit zu beschäftigen. Das sagt Lars Heidemann von der Wuppertaler Internetagentur Shetani. Er ist sich sicher, das Gesetz müsse kein Unternehmen in Panik versetzen – und niemand sollte mit der heißen Nadel alles auf barrierefrei umstellen, wenn es nicht nötig ist. Dennoch weist er darauf hin, dass das Gesetz aus seiner Sicht erstens sinnvoll ist und man sich zweitens als B2C-Dienstleister damit auseinandersetzen sollte, was man online umsetzen kann und muss. „Alles, was nach dem 28. Juni neu online geht, muss barrierefrei sein“, erklärt er. Das betreffe neue Websites und Apps sowie größere Neuerungen bestehender Seiten oder Angebote – nicht aber kleine Aktualisierungen.

Praktisch bedeute barrierefrei etwa, dass Websites gut wahrnehmbare Kontraste haben müssen. Bilder sollten Alt-Texte aufweisen. Barrierefreiheit bedeutet hier spezifisch Level AA nach den WCAG 2.1-Richtlinien. Heidemann sagt, dass Dienstleister wie seine Firma das entsprechend mit anbieten sollten, wenn sie Websites erstellen. Grundsätzlich sollten alle Redakteure von Internetmedien entsprechend sensibilisiert werden. Es gebe auch gute kostenfreie Tools, um zu überprüfen, ob die eigene Website barrierefrei ist und was dafür noch fehlt, erklärt er.

Heidemann empfiehlt, dass auch Unternehmen, die nicht oder noch nicht betroffen sind, trotzdem Schritte in Richtung Barrierefreiheit gehen – etwa eine gut strukturierte Programmierung der Inhalte hinterlegen, die gut maschinell auslesbar ist, oder Bilder mit Alt-Texten beschriften – auch die, die schon online sind. „Ich glaube, langfristig werden auch B2B-Unternehmen barrierefrei sein müssen. Und auch etwa Händler, die den Ausnahmen unterliegen, können sich über barrierefreie Inhalte neue Nutzer erschließen. Allein wegen der demografischen Entwicklung steckt darin ein großes Kundenpotenzial.“ Denn das Gesetz ziele eben auch auf ältere Menschen, die oft schlechter sehen mit den Jahren. Zudem werde auch das Suchmaschinen-Ranking immer mehr davon abhängen, wie barrierefrei eine Website gestaltet ist. Barrierefreiheit werde auf dem Markt zum Standard und sollte mitgedacht werden – letztlich sorge das für eine bessere Nutzerfreundlichkeit für alle. „Nutzerfreundlichkeit ist ohnehin zu lange zu kurz gekommen“, ist er überzeugt. Auf der Website von Shetani bietet Heidemann Infomaterial zum BFSG.

Dr. Andreas Leweringhaus, Geschäftsbereich Starthilfe, Unternehmensförderung, Recht der Bergischen IHK, sieht erst einmal die Schwierigkeiten im Gesetzestext. Darin sei zu erkennen, dass der Gesetzgeber versucht habe, konkrete Fälle zu erfassen und sie auch mit den Interessen der betroffenen Unternehmen abzuwägen. Daraus sei aber eine komplexe Regelung entstanden. Daher ist es empfehlenswert, jeden Sachverhalt gesondert zu betrachten. „Ich würde immer dazu raten, jeden Einzelfall überprüfen zu lassen“, sagt er. Die erste Frage sollte den in § 1 des Gesetzes beschriebenen Anwendungsbereich in den Blick nehmen. Dort sind die Produkte und Dienstleistungen aufgeführt, für die das Gesetz gilt. Hierzu gibt es eine vom Gesetz angesprochene Hilfestellung der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit.

Aus Sicht von Leweringhaus wird es darauf ankommen, wie die Vorschriften von den Gerichten ausgelegt werden. „Auch die Einschätzungen der einzelnen Branchenverbände werden eine wichtige Rolle spielen“, sagt er. Mit der Zeit würden die zahlreichen im Gesetz enthaltenen Begriffbestimmungen (§ 2 BFSG) an Trennschärfe gewinnen, so seine Erwartung.

Generell kritisiert er aber, dass es erneut Auflagen vom Gesetzgeber für Wirtschaftsbetriebe gibt, unabhängig davon, dass Barrierefreiheit natürlich sinnvoll sei. Den Unternehmen fehlten aber generell Ressourcen, um die vielen Vorschriften umzusetzen. „Politisch fehlt anscheinend ein Gefühl dafür“, führt er aus, „wie belastet die Wirtschaft durch die Summe der zahlreichen – für sich genommen durchaus sinnvollen – Regelungen ist. Jedes Gesetz erzeugt eine bürokratische Bugwelle. Der Gesetzgeber ist gut beraten, auf die belastende Summenwirkung zu achten.“

Bärbel Beck, IHK-Vizepräsidentin und Vorsitzende der Region Bergisches Land im Handelsverband NRW, ist selbst Einzelhändlerin als Inhaberin des Modehauses Johann. „Da die meisten Einzelhandelsgeschäfte in der Region unter die Regelung für Kleinunternehmer fallen, werden nicht viele Händlerinnen und Händler betroffen sein“, sagt sie. Trotzdem hält sie es für wichtig, dass sich alle informieren können, ob sie betroffen sind und was es dann zu tun gäbe. Der Handelsverband sei da ebenso aufgestellt wie die IHK, sagt sie. „Es ist wichtig, bei so einem Thema keine Verunsicherung aufkommen zu lassen und alle auf den Stand zu bringen.“ Denn viele Händler – aber auch andere potenziell betroffene Gruppen wie Gastronomien oder Hotels – seien bereits aktuell stark ausgelastet. „Es fehlt erst einmal vielen an Detailwissen und technischem Know-how, abgesehen von Zeit, sich selbst einzulesen.“ Es sei daher wichtig, sich zentral informieren zu können. Dass es für die Umsetzung der Standards eine Karenzzeit bis 2030 gibt, sei hilfreich – das gebe allen genug Zeit. Und gegebenenfalls würden bald auch Tools entstehen, die helfen, die Seiten anzupassen. „Die Technik entwickelt sich schnell“, so Beck.

Dass es aber nötig und wichtig sei, digitale Angebote so weit es geht barrierefrei zu gestalten, sei unbestritten, so Beck. Eben weil viele Menschen so besseren Zugang zu Angeboten bekämen, selbstständiger agieren könnten, und auch aus Sicht der Unternehmen, weil so mehr Kunden angesprochen würden.

„Unbedingt nötig“, nennt Petra Bömkes das Gesetz, sie ist Vorsitzende des Wuppertaler Beirats für Menschen mit Behinderung. Es sei „zwingend notwendig, dass alle Menschen Zugang zu digitalen Formen bekommen“. Es gehe um Leichte Sprache, Zugänge für Gehörlose und für Menschen mit Seheinschränkungen.

Produkte und Dienstleistungen müssten für Menschen mit Einschränkungen auffindbar, zugänglich und nutzbar sein. Ohne fremde Hilfe. Bömkes sagt, bisher werde man häufig mit dem Argument vertröstet, dass bei älteren Menschen etwa Enkel helfen sollen. „Aber das funktioniert nicht, wenn Familien immer öfter weit verstreut leben“ – und generell seien Hilfsangebote mit Aufwand oder Kosten verbunden. Sie sagt, die Umsetzung des Gesetzes sei wichtig, um allen Menschen Selbstständigkeit im Netz möglich zu machen. Firmen würden durch mögliche neue Kunden profitieren. Bömkes befürchtet aber, dass die Umsetzungen nicht weitgehend genug stattfinden und dass es keine Kontrollen der Umsetzung geben werde. In Madgeburg ist allerdings bereits eine Marktüberwachungsstelle der Länder für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen eingerichtet worden, die genau diese Kontrollen übernehmen soll.

Bömkes bietet allen Verbänden und Vertretern der Branchen an, sich mit Betroffenen auszutauschen, etwa mit dem Beirat für Menschen mit Behinderung. „Bitte informieren Sie sich bei Betroffenen vor der Umsetzung, damit kostspielige Änderungen der Webseiten auch sinnvoll sind“, bittet sie.

Text: Eike Rüdebusch

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