Rüstungswirtschaft - Unternehmen am Wendepunkt

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine und einem derzeit schwer einzuschätzenden NATO-Partner USA ist Deutschland gezwungen, intensiv über seine Verteidigungsfähigkeit zu diskutieren. Der Wirtschaft kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Ob „Marder“, „Puma“ oder „Leopard“ – alle Ketten, die sich unter Militärfahrzeugen in Deutschland drehen, stammen aus Remscheid. Hier hat die KNDS Deutschland Tracks GmbH ihren Sitz. Ein Unternehmen mit bewegter Geschichte: Die damalige Firma Backhaus wurde von den Alliierten kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs qualifiziert, defekte Ketten für ihre Panzer instand zu setzen. Ende der 1950er Jahre übernahm die Diehl-Gruppe die Remscheider Firma und baute sie technologisch aus. Vor rund zehn Jahren ging das Unternehmen dann an den Konzern Krauss-Maffei Wegmann (KMW). Durch den Zusammenschluss mit Nexter in Frankreich entstand kurz darauf die KNDS-Gruppe, die selbst unter anderem auch Radpanzer und Kettenfahrzeuge produziert.

Die Remscheider Ketten-Schmiede hat zirka 350 Mitarbeiter. Im Bereich Maschinenwartung und -instandhaltung arbeitet man eng mit lokalen Partnern zusammen. Das größte genuine Rüstungsunternehmen im Bergischen Städtedreieck verfügt über reichlich Erfahrung in einem außergewöhnlichen Wirtschaftsbereich. „Es ist ein sehr spezielles Geschäft, in dem man sich sehr gut auskennen muss, um Erfolg zu haben“, sagt Musbah Al-Mansour, Geschäftsführer von KNDS Deutschland Tracks.

Seit ihrer Gründung ist die Bundeswehr Kunde der Remscheider. Sie ist sogar größter Abnehmer. Weltweit gibt es rund 50 Kunden mit diversen Fahrzeugflotten aus nicht-deutscher Produktion. Die Kette ist ein klassisches Verschleißteil und zugleich eine „kritische Baugruppe“, so wie Geschützturm oder Motor: „Denn ohne Kette kann kein Panzer rollen“, sagt Al-Mansour. Entsprechend hoch seien die technischen Anforderungen.

Als „Wendepunkt“ für die Entwicklung des Geschäfts in jüngerer Zeit bezeichnet er die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014. „Damals fingen viele Staaten in Europa an, verstärkt für den Ernstfall zu üben und dementsprechend auch mehr Material anzuschaffen.“ Seitdem steigt der Umsatz jährlich immer weiter an. Damit folgt KDNS einem globalen Trend: Laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI investierten die Staaten 2024 mehr als 2,7 Billionen US-Dollar. Das war ein Plus von 9,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – der höchste Anstieg seit Ende des Kalten Krieges.

Die deutschen Militärausgaben stiegen demnach zum dritten Mal in Folge auf 88,5 Milliarden US-Dollar. Im Ranking der höchsten Militärausgaben belegt Deutschland damit – hinter den USA, China und Russland – den vierten Platz. Grund ist das „Sondervermögen Bundeswehr“. Von diesem 100-Milliarden-Euro-Programm erwartet Al-Mansour einen weiteren Schub in den kommenden zehn bis zwölf Monaten. Natürlich freue er sich nicht über die Bedrohung durch Russland, betont der Geschäftsführer, der direkt nach dem Studium in die Rüstungssparte eingestiegen ist. „Es geht, ganz nüchtern betrachtet, um unsere Verteidigungsfähigkeit. Damit müssen wir Europäer uns beschäftigen und am Ende unabhängiger und selbstständiger werden.“

Wie stark diese Herausforderung auch die NRW-Wirtschaft umtreibt, wurde vor wenigen Monaten auf einer denkwürdigen Netzwerkveranstaltung in Düsseldorf überdeutlich. Eingeladen hatte der Landescluster „NanoMikroWerkstoffePhotonik.NRW“ (NMWP.NRW) in Kooperation mit „AeroSpace.NRW“, „automotiveland.nrw“ und Kunststoffland NRW sowie „NRW.Global Business“ unter der Überschrift „High-Tech aus NRW für die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“, Zielgruppe waren wichtige Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Das Interesse war enorm: „Wir sind überrannt worden“, sagte NMWP-Geschäftsführer Dr. Harald Cremer. Binnen vier Tagen war die Veranstaltung ausgebucht. Viele Interessierte ließen sich auf die lange Warteliste setzen. Und das – wohlgemerkt – noch Wochen vor der Münchner Rede von US-Vizepräsident J. D. Vance, die in Europa bekanntlich heftige Erschütterungen ausgelöst hat.

Mehr als einhundert Teilnehmer waren schließlich gekommen. Manche nahmen es in Kauf, der Veranstaltung stehend zu folgen. Besonders stark war erwartungsgemäß die regionale Wirtschaft im Publikum vertreten. „Das Thema Defense ist für zahlreiche Unternehmen in NRW hochrelevant“, so Cremer. Nordrhein-Westfalen sei als High-Tech- und Materialstandort wichtig für die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie – und im Ländervergleich in der Spitzengruppe. Die Bandbreite auf dem Podium reichte dann auch vom Düsseldorfer Rüstungskonzern Rheinmetall bis zum Aachener Start-up Fibrecoat. Auch KNDS fehlte nicht.

„Auch Rüstungsindustrie ist Industrie.“ Dieser Satz, ausgesprochen von NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur, fasste die Grundstimmung des Treffens gut zusammen. „Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bedeutet eine Zäsur für die europäische Friedensordnung“, so Neubaur. „Er zeigt, wie wichtig es ist, unsere Demokratie und unsere Freiheit aktiv zu verteidigen. Dazu gehört auch die Einbindung der in der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie tätigen Hersteller wichtiger High-Tech-Produkte in die nationale Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“ Es gehe nicht etwa darum „bellizistisch unterwegs“ zu sein. Aber: „Die Welt hat sich verändert – und wir müssen darauf reagieren. Es braucht neue Lösungen, strategische Partnerschaften und eine enge Zusammenarbeit auf nationaler und europäischer Ebene.“ Anders ausgedrückt: Ein deutlich verstärktes Engagement aller Akteure im Bereich Defense muss – so bedauerlich die Gründe auch sind –, ein Stückweit zur neuen Realität werden. Die (spezialisierte) Wirtschaft – auch und gerade in NRW – hat dabei eine Hauptrolle inne.

„Wir befinden uns als Industriestandort aus Sicht der Bergischen, aber auch nationalen Wirtschaft aufgrund der aktuellen Multikrisen in einer entscheidenden Phase für die nächste Generation“, sagt Dr. Andreas Groß, Geschäftsführer der Heinz Berger Maschinenfabrik GmbH & Co. KG und Vizepräsident der Bergischen IHK. Aufgrund der außenpolitischen Situation werde der Rüstungssektor überproportional an Relevanz und Industrie-politischer Wichtigkeit dazu gewinnen. „Ein wichtiger strategischer, wirtschaftspolitischer Faktor wird daher sein, uns als Bergische Wirtschaft in den Wertschöpfungsprozess, der völlig unabhängig von jeder politischer Ausrichtung ist, mit einzubringen. Dies hat nicht direkt mit der Kompensation von wirtschaftlichen Verschiebungen aufgrund der globalisierten Automotive-Abhängigkeiten zu tun, kann aber helfen, vorhandene Fertigungs- und Entwicklungs-Kapazitäten umzunutzen.“

Konkret am Beispiel der Berger Gruppe bedeutet dies zum Beispiel die Neu-Entwicklung von Zuführsystemen für Panzerketten oder die Entwicklung von innovativen Roboter-gesteuerten Schleifsystemen für Turbinenschaufeln von Kampfflugzeugen. „Beides wird und wurde umgesetzt“, so Groß. „Es ist national entscheidend wichtig, Fertigungs- und Entwicklungskompetenzen für die Rüstungsindustrie in der eigenen Region und Land zu halten, um langfristig unsere Verteidigung mit eigenen Mitteln für Neubau und Nachschub sicherzustellen und unser Land und unsere Demokratie dadurch abzusichern. Aber auch, um gleichzeitig Wertschöpfung aus diesem Industriesektor zur Sicherung unserer Arbeitsplätze in der Region zu halten.“

Vor dem Hintergrund der verschärften Sicherheitslage einerseits und der Notwendigkeit, für konjunkturell schwer betroffene Branchen wie Automotive mögliche alternative Märkte zu erschließen, befasst sich auch die Bergische Struktur- und Wirtschaftsförderungsgesellschaft zunehmend mehr mit dem Thema Defense. „War es zunächst nur der Cyber-Security-Bereich, mit dem wir uns sehr intensiv auseinandergesetzt haben, ist es nun auch die gesamte Verteidigungsindustrie, die wir versuchen, für unsere Unternehmen als Potenzialsektor zu erschließen“, so Stephan A. Vogelskamp, Geschäftsführer der Bergischen Gesellschaft und zugleich Geschäftsführer von „automotiveland.nrw“. „Sind die vertrieblichen Zugänge auch sehr different zu anderen Industrien und auch die Mengen- und Preisgerüste anders strukturiert, so benötigt die Verteidigungs-Industrie aber zwei Merkmale, die unsere Unternehmen auszeichnen: gesicherte Qualität und hohe Präzision.“

Die Ansprache des Defense-Sektors durch die Bergische Gesellschaft erfolge in enger Abstimmung mit NMWP und dem NRW-Wirtschaftsministerium. „Hier machen Aktivitäten nur Sinn, wenn alle relevanten Akteure einen gemeinsamen Ansatz verfolgen“, so Vogelskamp. Dann, ist er sich sicher, könnten insbesondere auch kleine und mittlere Unternehmen profitieren.

Ein Beispiel dafür ist die IBK-Engineering GmbH. Die Wuppertaler streben eine verstärkte Neuausrichtung hin zum Rüstungsbereich an. „Unsere Kernkompetenz liegt historisch in der Entwicklung und Fertigung anspruchsvoller Tiefzieh- und Umformteile. Bereits in der Vergangenheit haben wir Komponenten für Kunden aus sicherheitskritischen Bereichen gefertigt“, erklärt Geschäftsführer Benjamin Koch. Technologisch und prozessual sei man in der Lage, höchste Anforderungen an Präzision, Rückverfolgbarkeit und Dokumentation zu erfüllen.

„Unser innovativer Engineering-Ansatz, kombiniert mit einem belastbaren globalen Netzwerk, ermöglicht nachhaltige und zukunftsweisende Lösungen für Projekte in der Wehrtechnik. Gleichzeitig stärkt unser regionales Engagement die wirtschaftliche Bedeutung unserer Heimat und macht uns zu einem verlässlichen und verantwortungsvollen Partner für sicherheitsrelevante Industrien.“ Als lokal verwurzelter Betrieb mit Spezialisierung auf Tiefziehtechnik sieht IBK-Engineering „ein klares Potenzial, unser Know-how in sicherheitsrelevante Anwendungen einzubringen und somit einen Beitrag zur industriellen Resilienz und zur Versorgungssicherheit zu leisten“.

In den kommenden ein bis zwei Jahren will das Unternehmen seine vorhandenen Stärken im Bereich sicherheitsrelevanter Blechbearbeitung weiter ausbauen. Dazu gehören Investitionen in Fertigungs- und Simulationstechnologie sowie der gezielte Aufbau von Kunden, Lieferanten und Partnern. „Gleichzeitig wollen wir uns regional stärker vernetzen – mit Industrie, Forschung und Politik –, um gemeinsam verantwortungsvolle Beiträge zur Versorgungssicherheit und industriellen Entwicklung zu leisten. Unser Ziel ist es, als kompetenter, lokal verankerter Partner anerkannt zu werden.“

Dabei sei man sich der Herausforderungen in der Rüstungsproduktion – etwa in Bezug auf Materialqualität, Rückverfolgbarkeit und Prozessdokumentation – durchaus bewusst. „Die technischen Hürden sind hoch, aber wir können sie überwinden“, meint Koch. Größere Herausforderungen sehe er eher im kaufmännischen Bereich, etwa in Form von komplexen Ausschreibungsverfahren, langen Planungszyklen oder der Vorfinanzierung technischer Entwicklungen.

Hinzu kommt die „moralische Dimension“: „Als regional verankertes Unternehmen mit Verantwortung gegenüber Mitarbeitenden, Partnern und unserer Gesellschaft setzen wir uns mit diesem Thema intensiv auseinander. Wir stehen für einen verantwortungsvollen Technikeinsatz im Sinne der Verteidigungsfähigkeit demokratischer Werte – nicht für offensive Rüstungsexporte. Diese Haltung ist Teil unserer Unternehmenskultur“, betont Koch.

„Bei uns wird jedes Projekt diskutiert, ob es moralisch tragbar ist“, sagt Marco Horn, Geschäftsführer der MKW GmbH Digital Automation in Wuppertal. Der Sondermaschinenbauer hat in der Vergangenheit kaum für die Rüstungsindustrie gearbeitet. „Wir verschließen uns aber nicht davor und bearbeiten aktuell mehrere Anfragen und Aufträge. Grundsätzlich können wir alles bauen und produzieren. Das bringt uns in eine exponierte Lage.“

Horn hofft auf den Aufbau eines regional verknüpften Netzwerks. „Die Bemühungen der IHK und der Wirtschaftsförderungen im Städtedreieck hierzu laufen grade an. Ich bin gespannt, was uns das bringen wird. Wir suchen aber auch noch andere Wege, uns zukunftsträchtig auszurichten.“ Denn er sehe zwar ein großes Potenzial, um die Krise in den Bereichen Maschinenbau und Automotive abzuschwächen – „allerdings hoffen wir doch alle, dass das Thema Rüstung in diesem Ausmaß endlich ist“. Daher sollte man die jetzigen Möglichkeiten als „Wirtschaftsbooster für kurze Zeit“ begreifen.

Auch die Bergische IHK engagiert sich für ihre Mitglieder im Thema Rüstungs-/Verteidigungsindustrie. Ralph Oermann, Leiter des Stabsbereich Industrie, Innovation und Energie, verzeichnet ein starkes Interesse der bergischen Unternehmen an diesem Bereich. „Nur der stetige Wille zur Transformation hat unsere bergische Industrie über Jahrhunderte konkurrenzfähig gehalten. Da ist es nur logisch, dass unsere Mitglieder aktiv überprüfen, ob künftig das Geschäftsfeld der Rüstungs- und Verteidigungsindustrie interessant sein könnte“, so Oermann. „Hohe Qualität und innovative Fertigung sind ein Markenzeichen der Region und sicherlich gute Grundvoraussetzungen.“ Auf dieser Basis unterstützt die Bergische IHK ihre Mitglieder beim Marktzugang, zum Beispiel durch Informations- und Netzwerkveranstaltungen.

Auch Renato Sensi warnt dringend davor, den zweifellos stark wachsenden Defense-Markt als „Allheilmittel gegen die Krise“ zu sehen. Der Geschäftsführer der AVL Schrick GmbH in Remscheid weiß, wovon er spricht: Die Remscheider entwickeln unter anderem Motoren, Batterien und Elektronik sowohl für den zivilen und für den militärischen Bereich. „Die nun anstehenden Investitionen im Verteidigungs-Bereich sind sicherlich enorm. Sie können aber nicht den Auftragseinbruch in der Autobranche auffangen“, so Sensi. Das liege unter anderem an gänzlich anderen Zeitvorstellungen: „Wenn ein OEM (Original Equipment Manufacturer, ein Erstausrüster, Anm. d. Red.), sich entscheidet, ein neues Auto auf die Straße zu bringen, kann das Ergebnis in drei Jahren fertig sein. Im nicht-zivilen Bereich ist ein Vielfaches üblich.“

Als Technologie-Entwickler würde AVL Schrick, so Sensi, ohnehin erst mit einiger Verzögerung die verstärkten Rüstungsausgaben merken: „Ein Großteil des Geldes fließt zunächst in Munition und Geräte, die bereits am Markt sind. Ich gehe allerdings davon aus, dass in den nächsten Jahren auch der Bedarf an neuer Technologie zunehmen wird und wir mit unserer Kompetenz auf diesem Gebiet helfen können.“

Der Ausbau der Kapazitäten am Standort Remscheid wäre nach Angaben des Geschäftsführers kein großes Problem. Fachkräfte würden längst nicht mehr vor einer Tätigkeit in diesem Umfeld zurückschrecken. „Warum auch? Die Menschen, die in diesem Industriezweig arbeiten, sind ja nicht etwa ,kriegslüstern’. Sie schaffen vielmehr Möglichkeiten der Verteidigung mit dem Ziel, möglichst keinen Krieg führen zu müssen.“

Text: Daniel Boss

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