Medizinische Forschung - Arzneimittel für Frauen
Prof. Petra Thürmann leitet das Philipp Klee-Institut für Klinische Pharmakologie am Helios Universitätsklinikum Wuppertal und hat an der Universität Witten/Herdecke den Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie inne.
Sie sind im Expertenrat Gesundheit und Resilienz der deutschen Bundesregierung. Was sind dort die Themen?
Im Moment ist der Expertenrat ruhend gestellt wegen des Regierungswechsels. Dieser interdisziplinäre Rat ist entstanden aus dem Corona-Expertenrat. Wir haben in verschiedenen Bereichen aufgezeigt, was wir in Deutschland ändern müssten, um bei Krisen besser aufgestellt zu sein. Uns war wichtig, dass man den Aspekt Gesundheit in allen Ministerien beachtet, also etwa auch in der Bauplanung oder im Verkehrswesen. So gibt es viele Beweise, dass Tempolimits auf der Autobahn Menschenleben retten würden – nicht nur Verunfallte, sondern Menschen mit Atemwegserkrankungen und anderen chronischen Erkrankungen.
Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Stimme dort gehört wurde?
Die Papiere dazu sind veröffentlicht. Die stehen auch der neuen Bundesregierung zur Verfügung, genauso wie unser ganzer Expertenrat. Und wir haben schon den Eindruck, dass sich in den letzten zwei Jahren recht viel bewegt hat, dass wir da ziemlich viel mit anstoßen konnten.
Sie haben viel politischen Einblick – es wird oft gejammert über das deutsche Gesundheitssystem. Was sagen Sie dazu?
Deutschland hat wirklich eines der besten Gesundheitswesen weltweit. Alle jammern hier, dass sie wochenlang auf einen Facharzttermin warten oder dass man ein paar Stunden in der Notaufnahme sitzt. Aber keiner überlegt, wie es zum Teil in anderen Ländern ist, dass bestimmte Eingriffe in einem bestimmten Alter gar nicht mehr gemacht werden. In England bekommt man nicht so leicht eine neue Hüfte, wenn man 85 ist. Und wenn ich in die USA blicke: In Deutschland muss niemand im Fernsehen um Spenden werben, um sich für 100.000 Euro eine Krebstherapie leisten zu können.
Sie forschen zu einer geschlechtssensiblen Versorgung in der Medizin. Warum ist das wichtig?
Historisch hat man die Unterschiede zwischen Mann und Frau sehr auf die Reproduktion reduziert. Beim Rest dachte man, das muss alles gleich sein. Aber das einfachste Beispiel ist, dass Frauen ihren Herzinfarkt häufig anders schildern als Männer. In den Lehrbüchern wird aber nur der Herzinfarkt vom Mann dargestellt. Dadurch sind viele Frauen verzögert oder nicht richtig behandelt worden. Mittlerweile haben wir auch festgestellt, dass sich bei Frauen das Immunsystem anders entwickelt als bei Männern.
Auch bei Medikamenten sind Wirkung und Nebenwirkung geschlechtsspezifisch. Wie ist dort der Stand der Forschung?
Nach dem Contergan-Skandal hat man neue Medikamente nicht mehr an Frauen getestet, weil diese schwanger werden könnten. Da haben wir einen richtigen Gender Gap in der Erforschung von Arzneimitteln. In den 80ern hat eine amerikanische Internistinnengruppe die Daten von allen Untersuchungen zu Blutdrucksenkern nach Geschlechtern analysiert. Sie kam zu dem Schluss, dass bestimmte Medikamente bei Frauen besser Herzinfarkt und Schlaganfälle verhindern als andere. Heute wissen wir, dass selbst bei Lungenkrebs Frauen auf bestimmte Medikamente anders reagieren als Männer. Und wir reden da bei bestimmten Erkrankungen vom Überleben! Diese Forschung ist also nicht nur ein „nice to have“.
Derzeit erforschen Sie insbesondere die Unterschiede bei Schmerz-Medikamenten.
Schmerz ist bei vielen Erkrankungen das erste Warnsymptom. Es wird aber gesagt, dass Frauen eher über Schmerz berichten als Männer. Das führt dazu, dass Ärztinnen und Rettungssanitäter den Schmerz von Frauen – oder auch von Menschen aus anderen Kulturkreisen – weniger ernst nehmen als den von Männern.
Ist Forschung zur spezifischen Wirkung von Arzneimitteln auf Männer und Frauen inzwischen Standard?
Bei späteren Untersuchungen von Arzneimitteln werden diese heute auch an Frauen getestet. Mittlerweile gibt es internationale Leitlinien, das man sogar schwangere oder stillende Frauen in Studien einschließen muss, weil auch eine schwangere Frau etwa eine Depression haben kann und behandelt werden muss. Es gibt ja diverse Situationen, in denen schwangere und stillende Frauen Medikamente benötigen.
Werden Frauen und ihre spezifischen medizinischen Bedürfnisse heute angemessen berücksichtigt in Forschung und Klinikalltag?
Sie werden angemessen berücksichtigt und die meisten weiblichen und männlichen Ärzte kennen heute gewisse Unterschiede. Trotzdem kommen Themen wie Endometriose oder polyzystische Ovarien, also Erkrankungen an den Eierstöcken, jetzt erst hoch. Es ist erstaunlich, dass man bestimmte Erkrankungen lange nicht so wahrgenommen hat, und erst jetzt richtig erforscht.
Bekannt geworden sind Sie für Ihre Priscus-Liste mit Medikamenten, die für ältere Menschen eventuell ungeeignet sind. Warum reagieren ältere Menschen anders auf Medikamente?
Wenn Sie sich eine hochbetagte Frau vorstellen, 80, 85 Jahre, dann fällt Ihnen ja schon rein äußerlich auf, dass die Haut ganz anders ist, dass viel weniger Muskelmasse vorhanden ist. Und ab dem 20. Lebensjahr lässt die Nierenfunktion nach. In der Regel bleiben die Medikamente länger im Körper, haben höhere Blutspiegel und wirken deswegen stärker. Aber auch Nebenwirkungen können ungleich stärkere Auswirkungen haben. Einen leichten Schwindel können junge Leute gut kompensieren. Eine alte Dame ist vielleicht sowieso nicht ganz fit auf den Beinen, stürzt dann und bricht sich den Oberschenkel. Auch die Blutdruckregulation funktioniert im Alter nicht mehr so gut. Und Wachheit und Denkvermögen können bei alten Menschen viel stärker durch Medikamente beeinträchtigt werden.
Haben Sie denn das Gefühl, dass dieses Wissen inzwischen in der Ärzteschaft vorhanden ist?
Wir sehen in bundesweiten Verordnungsdaten, dass sich da in den letzten zehn, zwanzig Jahren etwas verändert hat. Es hat auch viel Fortbildung stattgefunden in dem Bereich. Im Krankenhaus haben wir ja auch viele betagte Patienten, darauf müssen wir uns einstellen.
Zusätzlich zu dieser Alters-Frage kommen noch die Männer-Frauen-Unterschiede. Wird das nicht unübersichtlich für Ärzte?
Klar, das ist nicht einfach. Aber bei elektronischer Verordnung bekommen Sie sofort Warnhinweise zu Wechselwirkungen oder dass ein Medikament vielleicht für eine ältere Person nicht geeignet ist. Die Priscus-Liste ist inzwischen in den meisten deutschen Verordnungssoftwares hinterlegt.
Was gefällt Ihnen im Bergischen besonders gut?
Ich mag das viele Grün in Wuppertal und Umfeld und die hügelige Landschaft, ich möchte nicht im flachen Land leben!
Was ist Ihr Geheimtipp im Bergischen?
Der Zauber liegt in den besonderen Momenten, in denen man das „Normale“ aus einer anderen Perspektive sieht. Auf einer kleinen Brücke über der Wupper zu stehen, während sich ein Reiher im Mondlicht spiegelt und im nächsten Moment die Schwebebahn vorbeirauscht. An derselben Stelle eine blutrote Sonne zu sehen. Für eine Großstadt bekommt man in Wuppertal ziemlich viel Industriekultur und Natur auf einen Blick zu sehen.
Das Gespräch führte Tanja Heil.