Wer nutzt die Innenstadt? - Der Faktor Mut
Prof. Klaus Overmeyer vom Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur der Bergischen Universität ist Gründer der Urban Catalyst GmbH. Er ist Experte für Innenstädte.
Herr Overmeyer, worauf basiert strategische Innenstadtentwicklung?
Es ist ein bisschen wie beim Gang zum Psychologen. Die entscheidende Frage ist: Wie muss ich mich aufstellen, um zukunftsfähig zu sein? Derzeit sind Städte und insbesondere ihre Kerne mit vielschichtigen Wenden konfrontiert, für die sie Weichen stellen müssen: Klima, Mobilität, Arbeit, Flächenpolitik, Digitalisierung, Handel. Aufgrund der Pandemie haben sich diese Dynamiken beschleunigt, vor allem der Handel verlor an Umsätzen und regionaler Strahlkraft. Viele Städte haben sofort reagiert und Innenstadtmanagements eingerichtet. Auch der Bund wurde mit einem Förderprogramm für Innenstädte aktiv. Wuppertal hat daraus die Mittel für das Programm „InnenBandStadt“ generiert.
Innenstädte sollen zu „lebendigen Orten“ werden. Was ist das überhaupt?
Lebendigkeit ist zu einem Schlüsselfaktor für Städte in der Krise geworden. Sie umfasst nicht nur Frequenz, Umsatz und Verkehrsbewegung. Wie können Orte entstehen, an denen sich möglichst viele Menschen treffen und austauschen? Nicht mehr nur, um einzukaufen. Kernwerte sind vielmehr Identifikation, Aufenthaltsqualität, Erlebbarkeit, Nutzungsvielfalt, Klimagerechtigkeit und Zugänglichkeit. Die bisherige kommerzielle Entwicklung hat Städte vereinheitlicht. Darunter litten oft die spezifischen, lokalen Identitäten. Die gilt es, wiederzufinden. Der einstige Brunnen an der Poststraße in Wuppertal-Elberfeld ist ein Beispiel für solche Orte, die unter der Pseudo-Lebendigkeit der florierenden Fußgängerzone verschwanden. Inzwischen versucht man, sich wieder auf solche Spots zu besinnen und sie als öffentliche Orte des Austausches in den Fokus zu rücken.
Welche Rolle spielt das Öffentliche hinsichtlich gemeinschaftlich geteilter Werte?
In Innenstädten wird der „Common Ground“, also das Gemeinwohl und gemeinschaftlich genutzte Orte, neu verhandelt werden müssen. Was hält eine Stadtgesellschaft zusammen, und wie manifestiert sich Gemeinschaft? Handel, Geldausgeben und Versorgung werden auch künftig eine Rolle in den Citys spielen. Entscheidend sind aber weitere Aspekte: Wie können Innenstädte wieder zu Identifikations- und Erlebnisorten für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen werden? Ein Hebel sind zum Beispiel bezahlbare und vor allem unterschiedliche Wohnformen. Kann die Innenstadt ein Ort für Familien werden? Sollten Volkshochschule, Uni und Theater nicht einen viel stärkeren Platz in der Stadtmitte bekommen? Wo könnten Sportevents stattfinden, Lebensmittel produziert werden? Das alles ist relevant. Auch die Verbesserung der Erreichbarkeit für alle, indem mehr Ausgleich zwischen den Fortbewegungsarten Auto, ÖPNV, Fahrrad und Fuß geschaffen wird. Noch ein Aspekt: Ein hoher Versiegelungsgrad und dichte Bebauung heizen Innenstädte nachweislich stark auf – Durchlüftung, Grünbereiche, Fassadengestaltung, neue öffentlichen Freiräumen auf Dächern wirken dagegen.
Wie sieht es mit der Nutzungsvielfalt von zum Beispiel leeren Kaufhäusern aus?
Der Trend geht klar in Richtung „umnutzen statt abreißen“. Ansätze sind da – es gilt, auszuprobieren, welche passen. Eine Universität zieht zum Beispiel jüngere Menschen stärker in die Innenstadt. Unterschiedliche Wohnmodelle für verschiedene Zielgruppen könnten eine Rolle spielen. Oder Kultur. Aber auch gewisse Arten der Produktion wie 3D-Druck oder kleine Mode-Serien ließen sich dank neuer Technologien gut ins Zentrum verlegen.
Brauchen wir auch ein neues Mindset?
Wir befinden uns in einer unsicheren Phase zwischen zwei Polen: Auf Bewährtes können wir uns nicht mehr verlassen, das Neue ist noch nicht da. Ein wichtiger Faktor ist Mut. Altes stärken und reaktivieren, wo es sinnvoll ist, und uns an anderer Stelle auf etwas radikal Neues einlassen. Der Schlüssel ist, fachliche Einzelansätze intelligent zu verknüpfen, diese in eine übergeordnete Strategie einzubinden und mutige Orte für Veränderung zu entwickeln.
Das Interview führte Tonia Sorrentino.